Dorpat

[138] Dorpat (Dörpt, esthn. Tartulin, lett. Tehrpat, in den deutschen Quellen Darpt, Derpt, lat. Tarbatum genannt, seit 1893 laut kaiserlichen Befehls Jurjew), Kreisstadt im russ. Gouv. Livland, liegt am schiffbaren Embach, über den eine Brücke aus Granit und eine Holzbrücke führen, und an der Linie Taps-Riga der Baltischen Eisenbahn und ist neben Riga die ansehnlichste Stadt des Gouvernements. Anmutige Hügel umgeben die Stadt; am rechten Ufer des Flusses erhebt sich der Domberg, der früher die Zitadelle der Stadt, die Domkirche, den Palast des Bischofs etc. trug, von denen nur noch Ruinen vorhanden sind. Jetzt befinden sich darauf die Bibliothek, die Sternwarte, eine Reihe medizinischer Institute und große, freie Plätze, die zu Gartenanlagen und Promenaden benutzt sind; in ihrer Mitte erhebt sich das Denkmal des Naturforschers K. E. v. Baer. D. besitzt 4 lutherische und 2 griechische (russische) Kirchen, ein kath. Bethaus und ein Bethaus der Herrnhuter. Am Südabhang des Dombergs liegt die neue Universität, am Marktplatz das Rathaus und das alte Universitätsgebäude, unweit davon am Barclayplatz (mit dem Denkmal des Feldmarschalls Barclay de Tolly) der Kaufhof. Zur Rechten und Linken, wo ein größerer Raum zwischen dem hohen Ufer und dem Fluß bleibt, entwickelt sich die Stadt. Jüngst ange legte Deich e, die sich die Embachufer entlang ziehen, schützen die Stadt vor dem Frühlingswasser und bieten zugleich schöne Spaziergänge. Die Einwohner, (1897) 42,421 an der Zahl, sind überwiegend Deutsche, zum größten Teil lutherischen Glaubens, im übrigen Russen und Esthen, welch letztere besonders die dienende Klasse der Dorpater Bevölkerung bilden. Von industriellen Etablissements bestehen in D. einige Bierbrauereien, 2 größere Buchhandlungen und mehrere Buchdruckereien. Der Handel ist trotz der Eisenbahn und der Dampferverbindung mit Pskow über den Peipussee nur unbedeutend. Die 1632 gestiftete und 1802 erneuerte Universitäti (vgl. die Gedenkschrift von A. v. Gernet, Reval 1901) zählte 1899/1900: 58 Lehrende und 1265 Studierende. Sie besteht aus fünf Fakultäten: der evangelisch-theologischen, der historisch-philologischen, der physiko-mathematischen, der juristischen und der medizinischen. Mit der Universität sind verbunden: ein medizinisches Institut, ein[138] chirurgisch-klinisches Institut (nebst einem großen Barackenlazarett), eine ophthalmologische Klinik, ein Institut für Geburtshilfe, ein anatomisches Theater, eine Bibliothek von ca. 250,000 Bänden, ein Kunstmuseum, ein zoologisches und mineralogisches Institut, ein chemisches Laboratorium, eine durch Struve und Mädler berühmt gewordene Sternwarte und ein botanischer Garten (vgl. »Die deutsche Universität D.«, Leipz. 1882). Das Museum vaterländischer Altertümer enthält eine bedeutende Sammlung von Münzen, alten Waffen etc., die z. T. aus den alten Heidengräbern entnommen sind. Mit der Universität sind auch eine Medizinische, eine Naturforscher-sowie die Gelehrte Esthnische Gesellschaft (mit Museum) verbunden. Außerdem besitzt D. die 1846 gegründete Veterinäranstalt, ein Gymnasium, ein Realgymnasium, ein russisches Schullehrerseminar, eine städtische und zwei private höhere Töchterschulen, ferner ein Bezirksgericht für die Bezirke D. und Werro. In D. hat die Livländische Ökonomische Gesellschaft ihren Sitz, die eine eigne Zeitschrift: »Baltische Wochenschrift«, herausgibt.

Geschichte. D. wurde 1030 von dem russischen Großfürsten Jaroslaw I. gegründet und Jurjew benannt. Allein die ihnen damit auferlegte russische Herrschaft wußten die Esthen wieder abzuschütteln, und sie erfreuten sich ihrer alten Freiheit, bis 1224 die Deutschen die Esthenburg eroberten. Im selben Jahre entstand das Bistum D. Die Stadt schloß sich der Hansa an und rivalisierte in Reichtum und Macht selbst mit Riga und Reval. 1525 nahm D. die protestantische Lehre an. Am 18. Juni 1558 eroberte der Zar Iwan der Schreckliche die Stadt. Der Bischof wurde nach Rußland abgeführt, und die Stadt verfiel unter der 25jährigen Herrschaft der Russen. 1571 wollte sie Reinhold v. Rosen den Polen in die Hände spielen, der Anschlag mißlang aber, worauf ein großer Teil der Bewohner von den Russen niedergemacht, ein andrer nach Rußland gebracht wurde. Dennoch sah sich Rußland gezwungen, im Frieden mit Stephan Báthori 1582 D. an Polen abzutreten. Die Polen, die durch die härtesten Mittel die katholische Lehre in der eifrig protestantischen Stadt einzuführen suchten, aber den heftigsten Widerstand fanden, verloren die Stadt endlich 1625 an Gustav Adolf. Allerdings wurde D. 1656 von den Russen erobert und wieder ein Teil der Bevölkerung in die Gefangenschaft geführt; allein bald fiel die Stadt wieder an die Schweden zurück, und erst 1704 wurde sie unter Peter d. Gr. von Scheremetjew erobert und blieb seitdem unter russischer Herrschaft. Wegen vermeintlicher Verbindung mit Schweden wurde 1708 zum drittenmal der größte Teil der Bewohner tief ins Innere Rußlands versetzt, und die Stadt verfiel völlig. Erst 1718 durften die Bewohner zum Teil wieder heimkehren, und nun begann sich D. von den wiederholten Kriegen und Zerstörungen zu erholen. 1763 und 1775 ward es von großen Bränden heimgesucht. Seit 1783 ist D. Kreisstadt im Gouv. Livland. Vgl. Jul. Eckardt, Zur Geschichte der Stadt D. (in den »Baltischen u. russischen Kulturstudien«, Leipz. 1869); Hausmann, Aus der Geschichte der Stadt D. (Dorpat 1872); Bienemann, Die Katastrophe der Stadt D. während des nordischen Krieges (Reval 1902); Körber, Die Stadt D. in statistischer und hygienischer Beziehung (Dorpat 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 138-139.
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