Gift

[220] Gift nennt man jede Substanz, welche, mit dem lebenden menschlichen oder thierischen Körper innerlich oder äußerlich in Berührung gebracht, die Gesundheit stört oder auch das Leben völlig vernichtet, ohne daß jedoch eine mechanische Einwirkung wahrnehmbar ist. Es gibt kein Gift, welches in jeder Gabe, in jeder Verbindung, in jedem Falle und für jedes lebende Geschöpf durchaus tödtlich wirkt. Die größere oder geringere Schädlichkeit der giftigen Substanz hängt einerseits von ihrer Beschaffenheit und dem Grade ihrer Vertheilung und Auflösung, andererseits von dem Alter, dem Gesundheitszustande, der Gewohnheit und eigenthümlichen Constitution des sie aufnehmenden Körpers ab. Was dem erwachsenen Menschen Gewürz ist, kann dem Kinde zum Gifte werden. Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß viele sehr heftig wirkende Substanzen, wie z.B. Opium, Blausäure, Nieswurz, Quecksilbersublimat u.s.w. in sehr kleinen Gaben und in der Hand des Arztes oft zu den wohlthätigsten Arzneien werden, während sie in größern Gaben und auf den gefunden Menschen als Gifte wirken. Ferner ist bekannt, daß Dinge, die auf den Menschen keine giftigen Wirkungen äußern, gewisse Thiere zu tödten vermögen, so z.B. der Zucker Tauben und Enten, die Petersilie Papageien, Hollunderbeeren die Hühner, der Pfeffer die Schweine; endlich daß gewisse Pflanzen nur gewissen Thieren gefährlich sind, so z.B. der Wasserschierling, der auf Kühe, andere Thiere und Menschen die giftigsten Wirkungen äußert, während er von Pferden, Schafen und Ziegen ohne allen Nachtheil gefressen wird, ferner der der Gesundheit des Menschen so gefährliche Same des Taumellolchs, den die Vögel ohne den mindesten Schaden verzehren u.s.w. Abgesehen davon, wissen wir, daß sich der Körper nach und nach selbst an starke Gifte gewöhnen kann, sodaß sie für ihn gewissermaßen aufhören, Gifte zu sein. Belege dazu liefern der Taback und das Opium. Je nach dem Naturreiche, aus welchem die Gifte stammen, unterscheidet man mineralische, vegetabilische (Pflanzengifte) und animalische oder thierische. Zweckmäßiger scheint es jedoch, sie nach der Art ihrer Wirksamkeit einzutheilen. Demgemäß unterscheidet man nun reizende Gifte, narkotische oder betäubende, scharf narkotische und septische, oder solche, welche in dem lebenden Körper einen Zustand von Fäulniß erzeugen. Reizende Gifte nennt man solche, welche die Gewebe, mit denen sie in Berührung kommen, reizen, entzünden oder zerfressen. Im Allgemeinen sind ihre Wirkungen heftiger und furchtbarer als die aller andern Gifte. Der größte Theil der Säuren, die Alkalien, Metallsalze, eine Menge vegetabilischer Substanzen, aus dem Thierreiche die spanischen Fliegen, gewisse Fische u.s.w. gehören in diese Classe von Giften. Die Erscheinungen, welche sie hervorzubringen pflegen, sind folgende: Bald nach ihrem Genusse entsteht im Munde, auf der Zunge, im Schlunde, in der Speiseröhre, im Magen und Darmkanale ein Gefühl von Brennen und Zusammenziehen mit außerordentlicher Trockenheit, es stellen sich heftige, reißende und stechende Schmerzen im Unterleibe, hauptsächlich aber in der Magengegend, ein, Schluchzen, Übelkeiten, schmerzhaftes und hartnäckiges Erbrechen, blutige Stuhlausleerungen, unlöschbarer Durst, Entstellung des mit kaltem, klebrigem Schweiße sich bedeckenden Gesichts bei eisiger Kälte oder zuweilen auch großer Hitze des ganzen übrigen Körpers, kleiner, krampfhafter, häufiger, oft kaum zu fühlender Pulsschlag, beschleunigtes, schweres Athmen, außerordentliches Mattigkeitsgefühl, schreckliche Convulsionen, Besinnungslosigkeit, endlich der Tod. Werden reizende Gifte äußerlich beigebracht, so wirken sie örtlich ätzend ein und bringen an der Einverleibungsstelle alle Erscheinungen eines Brandschadens hervor, nachdem sie aber aufgesogen und in den allgemeinen Kreislauf gebracht worden sind, Zufälle, die ein Ergriffensein des Magens, des Darmkanals, der Urinblase, des Herzens, der Lungen, des Gehörs oder anderer Nervenpartien anzeigen. Sind sie durch Einspritzung in die Blutadern, in den Blutstrom unmittelbar gebracht worden, so zeigen sich in der Regel unmittelbare Wirkungen auf die Lungen, das Herz oder das Nervensystem. – Narkotische Gifte sind solche, welche zunächst auf das Nervensystem und namentlich auf das Gehirn wirken und fast immer, wie sie auch in den Körper gekommen sind, nachstehende Symptome, wenigstens einige von ihnen, herbeiführen: Eine Art von Taumel und Schlaftrunkenheit mit Schwere des Kopfes, Schwindel, Betäubung und Schlafsucht, tobsüchtiges oder auch fröhliches Irrereden, zunehmende Schmerzen mit kläglichem Schreien, Zuckungen, Schwäche oder gar Lähmung der Glieder, vorzüglich der untern Gliedmaßen, Erweiterung oder Verengerung der Pupille, verminderte Empfindlichkeit der Sinnesorgane, Ekel, Erbrechen, veränderter Pulsschlag u.s.w. Die narkotischen Gifte stammen größtentheils aus dem Pflanzenreiche. (Vgl. Geistpflanzen.) – Die Classe der narkotisch-scharfen Gifte umfaßt Substanzen [220] sehr verschiedener Art. Diese Gifte bewirken nicht alle die nämlichen Zufälle. Einige von ihnen rufen nervöse Erscheinungen hervor, die plötzlich aufhören, um sich einige Zeit nachher wieder einzustellen. Dergleichen sind eine auffallende Unruhe, Äußerungen eines fröhlichen Wahnsinns, Zuckungen der Muskeln des Gesichts, der Kinnladen und Gliedmaßen, nicht selten Erweiterung oder Verengerung der Pupillen, Schmerzen in verschiedenen Theilen des Unterleibes, Ekel, hartnäckiges Erbrechen, vermehrte Stuhlausleerungen u.s.w. Andere bewirken statt der beschriebenen Unruhe eine Art Rausch mit großer Schwäche, Zittern und Stumpfsinn ohne Neigung zu brechen. – In die vierte Classe, zu den septischen oder Fäulniß erregenden Giften gehören das Schwefelwasserstoffgas, das Gas, welches sich in den Cloaken entwickelt, überhaupt in Fäulniß übergegangene Stoffe, das Gift der Viper, der Brillenschlange, Klapperschlange, das Milzbrand- und Wuthgift der Thiere, das Wurstgift u.s.w. Ihre Wirkungen charakterisiren sich hauptsächlich durch allgemeine Schwäche mit öftern Ohnmachten und Entmischung der Säftemasse ohne Störung des Bewußtseins. – Nicht alle Gifte sind bekannt. Es werden immer neue entdeckt, und die Bereitungsart mancher ist als Geheimniß bewahrt worden, z.B. der einst so gefürchteten Aqua tofana (s.d.). – Gegengift nennt man ein dem Gifte entgegenwirkendes Arzneimittel, d.h. eine Substanz, welche ein mit dem thierischen Körper in Berührung gekommenes Gift schnell wegschafft, einhüllt, abstumpft oder niederschlägt, überhaupt weniger gefährlich oder ganz unschädlich macht. Doch sollen Gegengifte in der Regel nicht selbst wieder starke Gifte für den Körper sein, damit sie nicht lebensgefährliche oder gar tödtliche Wirkungen äußern. Sie müssen daher ohne allen Nachtheil selbst in großen Gaben gereicht werden können und sich nicht nur in flüssiger, sondern auch in fester Form wirksam zeigen. Nur in Fällen, wo man kein anderes Gegengift zur Hand hat oder kennt, muß man Mittel anwenden, die selbst wieder Gifte sind. Früher haben die Ärzte sich bemüht, ein allgemeines Gegengift aufzufinden, d.h. ein Mittel, welches die rast besitzen soll, alle Gifte unschädlich zu machen; allein bei den so sehr verschiedenen, ja sich gradezu entgegengesetzten Eigenschaften der einzelnen Gifte dürfte sich schwerlich jemals ein solches Universalmittel entdecken lassen. In neuerer Zeit hat man die Seife als ein fast allgemeines Gegengift empfohlen und nicht mit Unrecht, da sie gegen alle Metallauflösungen, alle Säuren, ja selbst gegen mehre vegetabilische Gifte die besten Dienste leistet. Die Gegengifte, deren man sich zweckmäßig in Vergiftungsfällen bedient, sind bei den einzelnen Giften angegeben. – Um dem unvorsichtigen, sowie dem verbrecherischen Misbrauche des Giftes vorzubeugen, werden in den meisten Ländern diejenigen Personen, welche von Berufswegen mit Giften zu thun haben, wie z.B. die Apotheker, besonders in Pflicht genommen und angewiesen, nur an verständige und hinlänglich bekannte Personen Gift zu verabreichen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 220-221.
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