Müller [1]

[209] Müller (Joh. von), der berühmteste Geschichtschreiber der Schweiz und ein ausgezeichneter Staatsmann, geb. 1752 zu Schaffhausen, wo sein Vater Geistlicher und Lehrer am Gymnasium war, gab schon frühzeitig Beweise seiner ungewöhnlichen Geistesfähigkeiten, welche durch die anziehenden Erzählungen seines in vaterländischen Geschichten erfahrenen Großvaters mütterlicher Seits, des Pfarrers Joh. Schoop, unvermerkt auf die spätere Richtung vorbereitet wurden, während die Einwirkung seiner edlen Mutter vorzüglich die Biederkeit seines Charakters begründete. Von seinem Vater zum geistlichen Stande bestimmt, widmete sich M. in Göttingen zwar vorzugsweise den theologischen Studien, wendete sich aber auch schon den historischen Forschungen zu und brachte den Vorsatz von der Universität mit zurück, der Geschichtschreiber seines Vaterlandes zu werden. Mit vielseitiger und wichtiger Unterstützung schritt er zur Ausführung dieses Plans, nachdem er 1772 Professor der griech. Sprache am Gymnasium seiner Vaterstadt und 1774 Hauslehrer bei dem Staatsrathe Tronchin-Calendrini in Genf geworden war, an welchen ihn der gemeinnützige, auch als philosophischer Schriftsteller vortheilhaft bekannte Karl von Bonstetten, geb. 1745, gest. 1832, empfohlen hatte, zu dem M. zeitlebens in der innigsten Beziehung stand und der mancherlei günstigen Einfluß auf dessen geistige Entwickelung und weltliche Stellung übte. Schon im folgenden Jahre ging M. jedoch in ein freieres Verhältniß zu einem talentvollen jungen Amerikaner über, der ein Landhaus am Genfersee bewohnte, und als dieser 1776 die Schweiz verließ, lebte er bei dem berühmten Naturforscher Bonnet und auf den Gütern von Bonstetten's seinen wissenschaftlichen Zwecken, bis er sich im Winter 1779 wieder nach Genf wendete. Er hielt hier historische Vorlesungen in franz. Sprache, in denen sich schon die Umsicht, Lebendigkeit und Unparteilichkeit seiner Auffassung bewährte, die aber, mehrmals umgearbeitet, erst nach seinem Tode unter dem Titel »Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichten« (3 Bde., Tüb. 1811) deutsch gedruckt' wurden. Durch die wechselnden Verhältnisse M.'s in den letzten Jahren, während der er persönliche Bekanntschaften und Verbindungen mit vielen Gelehrten und ausgezeichneten Männern angeknüpft hatte, waren seine historischen Arbeiten keineswegs unterbrochen worden, und so erschien 1780 zu Bern, der Censur wegen aber mit dem angeblichen Druckorte Boston, der erste Band seiner »Geschichte der schweiz. Eidgenossenschaft«, von der vier Bände und die erste Abtheilung des fünften (neue Ausg., Lpz. 1806–8) herauskamen und die zwar nur bis gegen Ende des 15. Jahrh. reicht, aber dem Verfasser durch ihre [209] hohe Verdienstlichkeit einen unvergänglichen Namen als Geschichtschreiber verbürgt. Mit großen Hoffnungen wendete sich M. jetzt nach Berlin, wo er auch eine Unterredung mit Friedrich dem Großen hatte, allein keine angemessene amtliche Stellung erhalten konnte, und daher im Mai 1781 die Professur der Geschichte am Carolinum zu Kassel annahm und im folgenden Jahre Rath und Unterbibliothekar wurde. M. löste jedoch 1783 diese Verhältnisse auf, kehrte nach Genf zurück und trat 1786 als Hofrath und Bibliothekar in die Dienste des Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Mainz, wo er bald auch zu Staatsgeschäften benutzt, unter Anderm, obgleich Protestant, mit einer Sendung nach Rom beauftragt und zum geheimen Legationsrath und geheimen Conferenzrath, endlich 1791 zum geheimen Staatsrath, Referendar und Director der kurrhein. Kreisarchive, vom Kaiser aber zum Edlen M. von Sylvelden und Reichsritter ernannt wurde. Die Geschäfte unterbrachen seine wissenschaftlichen Bestrebungen keineswegs ganz, auch fand er Zeit, wozu er stets Neigung hatte, sich in mehren gehaltreichen kleinen Schriften über Fragen der Gegenwart auszusprechen. Nach der Besitznahme von Mainz durch die Franzosen im J. 1792 ging der vom Anfang an der franz. Revolution abgeneigte M. nach Wien, wo er als wirklicher Hofrath bei der Hof- und Staatskanzlei zwar angestellt, allein bald inne wurde, daß auf höhere Beförderung ohne den Übertritt zum Katholicismus nicht zu rechnen sei, daher er 1800 in die erledigte Stelle des ersten Aufsehers der kaiserl. Bibliothek eintrat. Jetzt lebte M. wieder ganz den Wissenschaften, was noch mehr der Fall war, seit er das ihm durch mancherlei Unglück und Bedrängniß verleidete Wien 1804 mit Berlin vertauschte, wohin er als Mitglied der Akademie und Historiograph des Hauses Brandenburg mit dem Titel »geheimer Kriegsrath« berufen wurde. Hier vollendete er den vierten Band seiner Schweizergeschichte und besorgte unter Anderm auch die Herausgabe der Werke Herder's (s.d.); allein die nach der Schlacht bei Jena den preuß. Staat betreffenden Unfälle verhängten auch über M. arge Misverhältnisse, daher er im Oct. 1807 einem Rufe an die Universität Tübingen folgte. Auf der Reise dahin ereilte ihn aber ein franz. Courier mit dem kaiserl. Befehle, sofort nach Fontainebleau zu kommen, wo M. am 12. Nov. eintraf und am 17. Nov. zu Paris, seiner Gegenvorstellungen ungeachtet, in das Amt eines königl. westfäl. Minister-Staatssecretairs eingesetzt wurde. Als solcher kam M. im Dec. nach Kassel, wo er aber der Last der Geschäfte fast erlag, 1808 endlich die erbetene Entlassung erhielt und nun Staatsrath und Generaldirector des öffentlichen Unterrichts wurde. Der Druck der Zeitverhältnisse, der ihm überall hemmend entgegentrat und der Kummer über getäuschte Hoffnung und verfehlte Entwürfe, sowie Sorgen wegen der Schuldenlast, in die ihn die letzten Veränderungen gestürzt hatten, untergruben aber vollends seine längst geschwächte Gesundheit, und ein Gallenfieber setzte am 29. Mai 1809 seinem Leben und eisernem Fleiße ein Ziel. Das Benehmen M.'s, der unverheirathet blieb, war ganz das eines seinen Weltmanns, dabei aber die Biederkeit seines Charakters so groß, daß er sein Vertrauen wol mitunter getäuscht sah und wenig fähig war, krumme Wege zu gehen. M.'s sämmtliche Werke erschienen zuletzt in 40 Bänden (neue Aufl. 1831 fg.). Sein Grab zu Kassel ziert seit 1835 ein vom Könige Ludwig von Baiern errichtetes Denkmal, der als Kronprinz zu M. in nahen Beziehungen stand und die Grabstätte dazu angekauft hat.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 209-210.
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