Unterwelt

[535] Unterwelt (die), das Todtenreich oder Schattenreich der Alten, wurde mit den Namen Tartarus, Orcus, Erebus, Hades bezeichnet, obgleich dieselben an sich noch verschiedene Bedeutungen haben. Die ältesten Griechen verstehen nämlich unter Tartarus nichts Anderes als den Kerker der Cyklopen und Centimanen, in welchen nach Bekämpfung der Titanen durch die Kinder des Saturn, welche die Cyklopen befreiten, die Titanen eingeschlossen wurden. Orcus und Hades sind zugleich Namen des Beherrschers der Unterwelt, des Pluto (s.d.), und Erebus war ein Sohn des Chaos (s.d.) und bezeichnete das Urdunkel, die lastende Finsterniß der Unterwelt. Die Vorstellungen von dieser Unterwelt wurden nach denen über die Fortdauer nach dem Tode und von der Beschaffenheit der Welt und der Erde gemodelt, die Griechen aber legten dabei zunächst ägyptische Ideen zum Grunde. Die Ägypter hielten nämlich die Zeit des Lebens für sehr gering, das Andenken an Tugenden nach dem Tode aber sehr hoch. Die Wohnungen der Lebenden betrachteten sie nur wie Herbergen zur Einkehr auf kurze Zeit, die Gräber aber nannten sie ewige Wohnungen und statteten sie demgemäß aus. Daher ihre ungeheuern Todtenstädte und Pyramiden, welche unter Obhut des Osiris standen, der im Amenthes oder ihrem Todenreiche gebot, was später Serapis und Isis that, und Gericht hielt über die Seelen, welche Anubis herbeiführte. Den Eingang dieser Unterwelt bewachten Wölfe, und die Gestorbenen wurden dort unter Lehre und Leitung des milden und gerechten Osiris geläutert, wenn sie nämlich seiner Leitung folgten. Sie brauchten dann blos neun Jahre, während diejenigen Seelen, welche derselben nicht folgten, in einem Zeitraume von 3000 Jahren dreimal durch Thierleiber zu wandern hatten, bevor sie zur Rückkehr in die himmlischen Sphären gelangten. Wenden wir uns nun wieder zu den Vorstellungen der Griechen, so reichte der dunkle Tartarus, als Kerker der Titanen gedacht, so weit unter die für eine Scheibe gehaltene Erde hinab, als sich der Himmel über ihr wölbt. Auf seinem ehernen Boden sollten die Säulen ruhen, die Erde, Meer und Himmel stützten, und eherne Mauern umschlossen ihn. Später erst wurde die Unterwelt als Aufenthaltsort der Verstorbenen angesehen, aber die Meinungen von derselben veränderten sich mit der zunehmenden Bildung und den richtigern Ansichten, welche von der Gestalt der Erde gewonnen wurden. Die Unterwelt sollte nur im Innern der Erdkugel sich befinden und alle schaurigen Klüfte und Höhlen wurden als Zugänge zu ihr betrachtet. Dahin gehörte besonders eine Höhle am See Avernus in Unteritalien, der fast rings von Hügeln umschlossen war, die einen alten der Hekate geweihten Cypressenhain trugen und dessen pestilenzialische Ausdünstungen keinem Vogel gestatten sollten, über denselben hinwegzufliegen. Nach ihm wird die Hölle zuweilen Avernus, sowie Tänarus nach dem lakonischen Vorgebirge Tänarum (jetzt Cap Matapan) genannt, bei dem gleichfalls ein Zugang zur Unterwelt angenommen ward. Diese begrenzten der Styx oder stygische Fluß, und der schlammige Kocytus, welche durch ihre Vereinigung den acherontischen See bildeten oder acherusischen Pfuhl. Mercur führte die Seelen der Abgeschiedenen herbei, und der mürrische und rauhe, alte Fährmann Charon schiffte sie in seinem gebrechlichen Kahne gegen Bezahlung eines kleinen Geldstückes (Danake und Obolus) über die Höllenflüsse, weshalb den Todten eine solche Münze in den Mund gelegt wurde. Indessen leistete er diesen Dienst nur solchen Verstorbenen, deren Körper begraben worden waren, wofür indeß schon galt, wenn ein wenig Sand auf den Leichnam geworfen oder ihm ein Grabmal irgendwo errichtet wurde; welche kein Begräbniß erhalten hatten, ließ er hundert Jahre am Ufer umherirren, bevor er sie überführte. Aber auch Lebende konnten sich übersetzen lassen, wenn sie mit einem goldenen, der Proserpina geweihten Zweige versehen waren; weil aber Charon einst den Hercules ohne denselben übergesetzt hatte, mußte er zur Strafe ein ganzes Jahr in Ketten liegen. Am jenseitigen Ufer hielt in einer großen Höhle der Cerberus, ein Hund mit drei Köpfen, einer Schlangenmähne und einem Schlangenschwanze, Wache, der zwar Alle in die Unterwelt herein, aber keine Seele wieder herausließ. Hinter derselben lagen abgesonderte, dunkle Gefilde für die Kinderseelen, die Seelen unschuldig Umgekommener, der Selbstmörder und der von der Leidenschaft der Liebe getödteten, deren Aufenthalt auch die Klagegefilde hieß. Auf einem freien Platze fanden dann die Schatten den einen der Richter der Unterwelt, den Minos (s.d.), welcher nach ihren Thaten im Leben entschied, ob sie den rechts zum Palaste des Pluto und zum Elysium (s.d.), oder den links zum Tartarus, dem Aufenthalte der Verdammten und Orte der Strafe führenden Weg einzuschlagen hätten. Der letztere war von einer dreifachen Mauer umschlossen; am Eingange erhob sich ein eiserner Thurm und rings umfluthete ihn der feuerströmende Phlegethon. Rhadamanthus (s.d.), ein zweiter Richter der Unterwelt, thronte hier und bestimmte Art und Größe der Strafen, deren einige ganz außerordentlicher Art waren, wie z.B. die der Danaiden (s.d.), des Sisyphus (s.d.) und des Tantalus (s.d.). Ein dritter Richter der Unterwelt war Äacus, der Sohn des Jupiter und der Ägina, nach der die Insel benannt wurde, wo er zur Welt kam. Sein besonderes Kennzeichen ist der Schlüssel zum Tartarus, welchen Pluto ihm anvertraute, und die Schatten aus Europa wurden vornehmlich von ihm gerichtet. Elysium war ein mit allem Schönen und Herrlichen ausgestatteter Aufenthalt, vom Lethe (s.d.) umflossen, aus dem die hierhergewiesenen Schatten tranken und dadurch Alles vergaßen, was ihnen auf der Oberwelt Unangenehmes begegnet war. – Von Denjenigen, welche zu verschiedenen Zeiten sonderbar genug behauptet haben, daß die Erde eine [535] hohle Kugel und ihre innere Fläche der äußern ähnlich gestaltet und bewohnt sei, wird auch diese innere Welt die Unterwelt genannt.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 535-536.
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