Anthropophagie

[571] Anthropophagie (griech., »Menschenfresserei«, auch Kannibalismus, abgeleitet von dem menschenfressenden Stamm der Kariben, span. Canibals), die nicht bloß bei niedersten Stämmen vorkommende Sitte, Menschenfleisch zu genießen, für die Feinschmeckerei, religiöse und selbst pietätvolle Vorstellungen, vorzüglich aber der Glaube, daß sie nur so den Feind ganz vernichten und seine Kräfte erben können, in Betracht kommen. Die Oger und Menschenfresser unsrer Märchen können noch als Nachklang der vorhistorischen Anthropophagen Europas betrachtet werden, die durch die Knochenfunde in Höhlen Italiens, Belgiens, Frankreichs, der Pyrenäen, Englands, Dänemarks etc. nachgewiesen wurden. Menschenfresser spielen in der Bibel, der Odyssee (Polyphem) etc. eine Rolle. Herodot beschuldigt die Skythen, andre alte Autoren die Inder, Äthiopier und Massageten der A., doch handelt es sich hierbei öfter um pietätvolles Aufessen der Leichen von Kindern, Eltern und Geschwistern, z. B. bei der sogen. Greisentötung (s. d.), die auch als Endokannibalismus zum Unterschied von Verzehrung fremder Leute, Kriegsgefangener etc. (Exokannibalismus) bezeichnet wird. In altägyptischen Gräbern fand Petrie die Knochen sorgsam abgeschabt und zu Bündeln vereinigt. Der heil. Hieronymus (4. Jahrh.) schildert als Augenzeuge die britannischen Attikoten als Menschenfresser. Im Mittelalter werden bald die slawischen Wilzen, bald die finnischen Ersen oder Mordwinen als solche genannt, selbst die Langobarden sind, wahrscheinlich ebenso unverdient wie mehrere der Vorgenannten, in diesen Ruf gekommen, weil sie ihre Feinde damit schreckten, daß sie hundsköpfige Bluttrinker im Nachtrab führten. Gegenwärtig ist die A. noch in Afrika, Asien, Amerika, Australien und auf den Südseeinseln im Schwang. In Asien sind nur noch die malaiischen Batta auf Sumatra, ein relativ gebildetes Volk mit eigner Literatur, der A. ergeben. Die A. ist bei ihnen durch Gesetz sanktioniert und findet regelmäßig statt, wenn ein Gemeiner die Frau eines Radscha verführt, und wenn ein Landesverräter, Spion oder Feind mit den Waffen in der Hand ergriffen wird. Die Pfähle, an denen man die Menschen schlachtet und verzehrt, werden mit mythologischen Figuren verziert, von den Priestern zu Zaubergeräten verarbeitet. Diesem durch Herkommen und Religion eingeschränkten Brauch gegenüber erscheint in Afrika die A., wenigstens an der Westküste von Sierra Leone bis zum Nigerdelta, als reiner Ausfluß tierischer Begierden, da dort das Fleisch von Gefangenen, Sklaven etc. gleich jedem andern Fleisch verzehrt wird, namentlich in Kalabar. Nach Du Chaillu[571] sind auch die Fan oder Pahuin, ein aus dem Innern gekommenes Volk, Menschenfresser, ebenso die Manjuema. Über die A. der nördlich von ihnen, im äquatorialen Innerafrika, wohnenden Monbuttu und Niam-Niam wurden haarsträubende Einzelheiten durch Schweinfurth berichtet. Unter dem Kaffernstamm der Basuto herrschte wenigstens zeitweilig A. In Amerika fanden die ersten Entdecker auf den Antillen das verhältnismäßig zivilisierte, aber menschenfressende Volk der Kariben; die alten Azteken in Mexiko brachten Menschenopfer dar und verzehrten bei festlichen Gelegenheiten Menschenfleisch. Ebenso die Inkaperuaner, verschiedene Indianerstämme, vor allen die Irokesen und Algonkin. Gelegentlich kommt noch jetzt bei einigen Stämmen der Odschibwä A. vor. Weitverbreitet war A. bei allen Tupivölkern in Südamerika, wo Rache das Motiv war, namentlich im Gebiete des Amazonenstroms, bei den Kaschibo am Pachuca, den Miranha und Mesanya am Japure und Amazonas. Die Schwarzen des australischen Kontinents sind noch Kannibalen, und unter den Südseeinsulanern sowohl Melanesier als Polynesier. A. ist verbreitet über einen Teil Neuguineas, war früher stark auf Neukaledonien und den Fidschiinseln, wo sie sich zu einer solchen Feinschmeckerei entwickelt hat, daß man besondere Gewürzpflanzen, den Malawi (Trophis anthropophagorum) und die Borodina (Solanum anthropophagorum), im Umkreis der »Freudenhäuser«, als unentbehrliches Gewürz für die darin stattfindenden Schmäuse, anbaute. Man benutzte ebenso ausschließlich für diese besondere drei- bis vierzinkige Gabeln aus Kasuarinenholz. Die Maori auf Neuseeland nahmen die A. erst an, als die Moas, die großen Riesenvögel, auf der säugetierlosen Insel verschwunden waren und andre Fleischnahrung dem Volke sich nicht darbot. Der letzte Fall wurde 1843 beobachtet. Von den Markesas- und Samoainseln sind gleichfalls kannibalische Gewohnheiten bekannt geworden. Im Bismarck-Archipel herrscht A. ganz allgemein. Einzelne Anthropophagen aus unbezwinglichem, krankhaftem, zuweilen erblichem Gelüst beobachtete man auch wiederholt in zivilisierten Staaten, z. B. bei schwangern Frauen. Bisweilen führte auch Hunger oder Verzweiflung zur A., z. B. in Ägypten bei der großen Hungersnot 1200 und 1201; die Gewohnheit machte die bestialische Fresserei zuletzt zur Liebhaberei, der nur durch die härtesten Strafen Einhalt getan werden konnte. Vgl. Andree, Die A. (Leipz. 1887); Bergemann, Die Verbreitung der A. über die Erde (Bunzlau 1893); Steinmetz in den »Schriften der Wiener Anthropologischen Gesellschaft«, Bd. 26.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 571-572.
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