Pharmakognosīe

[761] Pharmakognosīe (griech.), die Lehre von den arzneilich benutzten Rohstoffen des Pflanzen- und Tierreichs. In den ältesten Schriften der orientalischen und europäischen Literatur werden zahlreiche Arzneipflanzen genannt, und viele sowie manche ihrer Produkte lassen sich ungeachtet der äußerst dürftigen Beschreibungen mit Sicherheit erkennen. Nicht viel eingehendere Beschreibungen von Heilpflanzen oder Heilstoffen aus der organischen Natur wurden von den Medizinern und Botanikern des Mittelalters geliefert. Erst als bei Beginn der Neuzeit die Naturwissenschaft von dem allgemeinen geistigen Aufschwung mit ergriffen wurde, tauchten genauere Schilderungen und bald auch Abbildungen von arzneilich benutzten Pflanzen und Tieren auf. Dazu gesellten sich neue Anregungen. als Amerika und der Seeweg nach Ostindien entdeckt wurden und diese Länder nun den Arzneischatz mit neuen Mitteln bereicherten. 1533 trat Buonafede als Lector Simplicium in Padua als erster Lehrer der P. auf, und um 1540 lehrte Valerius Cordus in Wittenberg arzneiliche Rohstoffe in weit befriedigenderer Weise kennen als alle Vorgänger. Konrad Gesner in Zürich war um dieselbe Zeit in gleicher Richtung tätig, und gute Beschreibungen altberühmter indischer Drogen entwarf um 1560 der portugiesische Arzt Garcia de Orta in Goa. Von nun an kamen die Fortschritte der beschreibenden Naturwissenschaft den Heilstoffen regelmäßig zugute, so daß ihre Eigenschaften im 16., 17. und 18. Jahrh. mehr und mehr festgestellt wurden. Oft boten dazu die Pharmakopöen (s. d.) Anlaß, die württembergische z. B. schilderte 1740 die Drogen in musterhafter Weise. So hatte sich im Laufe der Zeit, weit mehr durch die Bemühungen der Ärzte und Botaniker als der Apotheker, die Lehre von den Heilstoffen zu einer eignen Wissenschaft, Materia medica, herausgebildet. Der damalige Inhalt dieses Wissenszweigs findet sich übersichtlich in Murrays »Apparatus medicaminum« (Götting. 1766–94, 6 Bde.). Diese Materia medica erstreckte sich auf die äußern Kennzeichen, die pharmazeutische Behandlung, die Anwendung und Wirkung der Heilstoffe und erhielt sehr allmählich weitere Vertiefung, als sich besonders seit Paracelsus, vom 16. Jahrh. an, den rohen Heilstoffen (Drogen) des Pflanzenreichs und der Tierwelt auf chemischem Weg dargestellte Substanzen anreihten. Zu ihrer Kenntnis wurden nun von den Apothekern, hauptsächlich in Deutschland, Frankreich, England, zahlreiche Beiträge geliefert. Die folgenreichste hierher gehörige Tatsache ist die Auffindung des Morphins im Opium. Der Apotheker Sertürner in Hameln (Hannover) wies 1817 nach, daß jenem Stoff die Hauptwirkung des Opiums zukomme, und bald wurden noch aus andern Arzneimitteln die wirksamen Stoffe in reinem Zustand abgeschieden. Dadurch stieg die organische Chemie, die sich jetzt machtvoll zu entwickeln begann, zum Rang einer Hauptstütze der Materia medica oder Pharmakologie, wie diese Wissenschaft jetzt auch häufig genannt wurde, empor. Sie bereicherte sich bald so sehr an Tatsachen, daß sich namentlich in Frankreich und Deutschland eine Teilung des Faches vollzog, indem ein Teil davon mehr und mehr selbständig als Naturgeschichte der Drogen (pharmazeutische Warenkunde) und endlich, seit dem zweiten Dezennium des 19. Jahrh., als P. unterschieden wurde im Gegensatz zu der Pharmakologie (s. d.). Die Hauptwerke, die diese Anschauungsweise zur Geltung brachten, wurden von wissenschaftlichen Apothekern verfaßt, so von Guibourt 1820 die »Histoire naturelle des drogues simples«, heute noch das klassische Buch der Franzosen. In Deutschland[761] schrieben Trommsdorff 1822 ein »Handbuch der pharmazeutischen Warenkunde«, Göbel und Kunze 1827–34 ihre »Pharmazeutische Warenkunde«, Ebermeier um die gleiche Zeit »Pharmakognostische Tabellen«, Martius 1832 den »Grundriß der P. des Pflanzenreichs«. In England blieb die P. mit der Pharmakologie unter diesem letztern Namen oder als Materia medica und Therapie zusammengefaßt, wie z. B. in dem großen Lehrbuch von Pereira (1841). Schleiden in Jena machte 1847 zuerst das Mikroskop der P. dienstbar in einer Arbeit über Sassaparillewurzeln, Wedell begründete 1849 die Kenntnis des innern Baues der Chinarinden, und Bergin Berlin, Oudemans in Rotterdam, Schleiden dehnten mikroskopische Untersuchungen auf das ganze Gebiet aus. Andre, besonders Pereira und Wiggers, beleuchteten die Handelsverhältnisse und die äußern Merkmale der Drogen. Die Aufgabe der heutigen P. ist daher die allseitige Kenntnis der gegenwärtig arzneilich benutzten Rohstoffe, etwa mit Einschluß solcher Pflanzen oder ihrer Teile und Produkte, die nur als Rohmaterial zur Gewinnung bestimmter Heilmittel dienen. Diese Kenntnis umfaßt außer botanischen und zoologischen Erörterungen auch die chemische Zusammensetzung der betreffenden Körper. Namentlich für den Apotheker sind aber auch manche andre Beziehungen von Interesse, wie z. B. die Kultur der Arzneipflanzen, die Gewinnung und Zubereitung der Drogen, die bezüglichen Handelsverhältnisse, und endlich will auch die Geschichte ihr Recht haben und manche jener Stoffe durch die Jahrhunderte zurück verfolgen. In dieser umfassenden Weise haben besonders Pereira, Flückiger und Hanbury die P. aufgefaßt. Vgl. Berg, Pharmazeutische Warenkunde (5. Aufl. von Garcke, Berl. 1878) und Anatomischer Atlas zur pharmazeutischen Warenkunde (das. 1869); Berg und Schmidt, Atlas der offizinellen Pflanzen (2. Aufl. von A. Meyer u. Schumann, Leipz. 1902); Flückiger und Tschirch, Grundlagen der P. (2. Aufl., Berl. 1885); Flückiger, P. des Pflanzenreichs (3. Aufl., das. 1891) und Grundriß der P. (2. Aufl., das. 1894); Wigand, Lehrbuch der P. (4. Aufl., das. 1887); A. Meyer, Wissenschaftliche Drogenkunde (das. 1891–92); Möller, Lehrbuch der P. (Wien 1889) und Pharmakognostischer Atlas (Berl. 1892); Gilg, Lehrbuch der P. (das. 1905); Guibourt, Histoire naturelle des drogues simples (7. Aufl., Par. 1876, 4 Bde.); Planchon, Traité pratique de la détermination des drogues simples (das. 1875); Flückiger und Hanbury, Pharmacographia (2. Aufl., Lond. 1879; franz. von Lanessan, Par. 1878, 2 Bde.); Pereira, Elements of materia medica etc. (hrsg. von Bentley und Redwood, Lond. 1874); Oudemans, Handleiding tot de pharmacognosie (2. Aufl., Amsterd. 1880); Tschirch und Österle, Anatomischer Atlas der P. und Nahrungsmittelkunde (Leipz. 1893–1900); Hartwich, Die neuen Arzneidrogen aus dem Pflanzenreich (Berl. 1897); Dragendorff, Die Heilpflanzen der verschiedenen Völker und Zeiten; ihre Anwendung, wesentlichen Bestandteile und Geschichte (Stuttg. 1898), und die Kommentare zu den Pharmakopöen (s. Pharmakopöe, S. 763).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 761-762.
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