Politīk

[98] Politīk (griech.), bei den Griechen Bezeichnung für die »Lehre vom Staate«, die Staatswissenschaft. Die engere Begrenzung des Begriffes hängt mit der Unterscheidung zwischen P. und Staatsrecht zusammen. Beide beschäftigen sich nämlich mit dem Staat; während ihn aber das Staatsrecht nach seinen rechtsgeschichtlichen Grundlagen und in seinen feststehenden Formen darstellt, betrachtet ihn die P. in der Betätigung. Die P. als Wissenschaft ist die Lehre vom Staatsleben. Die Anwendung ihrer Grundsätze auf gegebene staatliche Verhältnisse führt zur praktischen[98] P. (Staatspraxis); jene, die theoretische P., ist Staatswissenschaft, diese Staatskunst. Wer sich nach einer von beiden oder nach beiden Richtungen hin mit dem Staatsleben beschäftigt, wird Politiker, und wer sich auf diesem Gebiet, namentlich aber auf dem der praktischen P., zu besonderer Bedeutung emporschwingt, Staatsmann genannt. Die theoretische und die praktische P. stehen im innigsten Zusammenhang; denn der theoretische Politiker darf sich ebensowenig über die tatsächlichen Verhältnisse des Lebens der Staaten und der Einzelnen hinwegsetzen, wie der praktische Politiker der wissenschaftlichen Grundsätze der P. entraten kann. Mit dieser Unterscheidung fällt der Gegensatz zwischen Real- und Idealpolitik nicht zusammen, der vielmehr in der praktischen wie in der theoretischen P. hervortritt. Man bezeichnet mit Realpolitik diejenige P., die sich streng an das Bedürfnis hält, und stellt ihr die Idealpolitik gegenüber, die sich lediglich durch die Macht der Idee beherrschen läßt. Beide sind in ihrer Einseitigkeit verwerflich. Denn die Realpolitik wird sich, wenn sie des idealen Zuges völlig entbehrt, in kleinlicher Weise lediglich auf die Förderung materieller Interessen (Interessenpolitik) beschränken, während die Idealpolitik, die den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen verliert (Phantasiepolitik, Gefühlspolitik), unfruchtbar, wenn nicht verderblich sein wird. Man kann die P. ferner in innere und äußere P. einteilen. Jene beschäftigt sich mit den Verhältnissen, in denen der Staat zu seinen eignen Angehörigen steht, während die letztere die Beziehungen des Staates zu andern Staaten und die Stellung desselben im Staatensystem überhaupt behandelt. Den Gegenstand der innern P. bilden hiernach vor allem die Verfassung und die organische Einrichtung des Staatswesens selbst (Verfassungspolitik), dann die Vorbereitung der Gesetze, welche die öffentlichen und privaten Lebensverhältnisse der Staatsangehörigen regeln sollen (Gesetzgebungs-, Rechtspolitik); ferner die Staatsverwaltung, namentlich das Finanzwesen (Finanzpolitik, Steuerpolitik) und die staatliche Fürsorge für die Kulturverhältnisse des Volkes (Wirtschaftspolitik, politische Ökonomie, Agrarpolitik, Sozialpolitik, Kirchenpolitik). Die äußere P. (P. im engern Sinn, hohe P.) beschäftigt sich mit den Verhältnissen der Staaten untereinander im Zustande des Friedens sowohl als in dem des Unfriedens, also namentlich mit dem Handelsverkehr (Handels- und Zollpolitik), mit den diplomatischen Beziehungen, mit der Wehrkraft des Volkes. Die Art und Weise, wie bei Eroberung von Ländern unzivilisierter Völker vorzugehen ist, wie die eroberten Länder (Kolonien) bewirtschaftet und verwaltet werden sollen, kurz die Grundsätze, die gegenüber den Kolonien nach dieser oder jener Richtung hin und gegenüber andern zivilisierten Ländern in bezug auf die eignen und noch zu erobernden Kolonien anzuwenden sind, versteht man unter Kolonialpolitik. Die P. als Wissenschaft hat sich aber außerdem mit der Feststellung des Begriffs der P., mit der Einwirkung der äußern Natur auf das politische Leben, insbes. mit der Größe, Gestaltung und Produktionskraft des Staatsgebietes, der Dichtigkeit der Kultur, dem Reichtum und dem Charakter seiner Bevölkerung, zu beschäftigen, wobei ihr die Statistik als wichtigste Hilfswissenschaft zur Seite steht. Ferner ist der Einfluß der Menschennatur auf die P. und im Zusammenhang damit das Wesen der politischen Parteien zu erörtern, und endlich bildet die Lehre vom Staatszweck überhaupt und von den Mitteln zur Erreichung desselben den Gegenstand der theoretischen P. Was die wissenschaftliche Behandlung der P. anlangt, so sind aus dem Altertum die philosophischen Werke des Aristoteles, namentlich die »P.« desselben, von größter Bedeutung, während sich die »P.« des Platon zu sehr in idealen Sphären bewegt. Von den Werken römischer Schriftsteller bieten die Schriften Ciceros und die des Tacitus manches Interessante. Eine neue Entwickelung der theoretischen P. beginnt erst gegen Ende des Mittelalters mit Machiavelli und dem Franzosen Bodin, denen sich der Holländer Hugo Grotius, der Begründer der modernen Völkerrechtstheorie, anschließt. Aus neuerer Zeit heben wir hervor: Benj. Constant, Cours de politique constitutionnelle (Par. 1817–20, 4 Bde.; hrsg. von Laboulaye, 2. Aufl. 1872, 2 Bde.); Dahlmann, Die P. auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (nur Bd. 1 erschienen: Staatsverfassung, Volksbildung, Götting. 1835; 3. Aufl., Berl. 1847); R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und P. (2. Abteil., Tübing. 1862–69, 2 Bde.); Waitz, Grundzüge der P. (Kiel 1862); Fr. v. Holtzendorff, Prinzipien der P. (2. Aufl., Berl. 1879); Bluntschli, P. als Wissenschaft (Stuttg. 1876); Parien, Principes de la science politique (2. Aufl., Par. 1875); Ch. Benoist, La politique (das. 1894); Roscher, Politik (2. Aufl., Stuttg. 1892); Ratzenhofer, Wesen und Zweck der P. (Leipz. 1893, 3 Bde.); H. v. Treitschke, P. (2. Aufl., das. 1899–1900, 2 Bde.); Wernicke, System der nationalen Schutzpolitik nach außen (Jena 1896); Schollenberger., P. in systematischer Darstellung (Berl. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 98-99.
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