Tiberĭus Claudĭus Nero

[521] Tiberĭus Claudĭus Nero, röm. Kaiser 14–37 n. Chr., geb. 42 v. Chr., Sohn eines gleichnamigen Vaters und der Livia Drusilla und nach deren Verheiratung mit Augustus (38) Stiefsohn des Kaisers, zeichnete sich als geschickter Feldherr an der Donau und am Rhein aus (12–8), zog sich aber 6 durch die Ausschweifungen der Julia, der Tochter des Augustus, der ihn 11 mit ihr verheiratet hatte, und durch Eifersucht auf die bevorzugten Enkel des Augustus, Gajus und Lucius Cäsar, gekränkt, gegen den Willen des Kaisers nach Rhodos zurück, von wo er erst 2 n. Chr. nach Rom zurückkehrte. Die auch jetzt noch ungünstige Lage änderte sich für ihn durch den Tod des Gajus und Lucius Cäsar; denn jetzt blieb Augustus nichts mehr übrig, als ihn zu adoptieren (4), obwohl er ihn nicht liebte. Sonach fiel ihm, nachdem er in den Jahren 4 und 5 vom Rhein bis zur Elbe Ruhe geschaffen, 6–9 einen neuen, langen und schwierigen Krieg in Pannonien und Dalmatien geführt und 10–11 nach der Niederlage des Varus die Rheingrenze gegen die Deutschen geschützt hatte, 14 nach dem Tode des Augustus die Herrschaft von selbst zu, die er 23 Jahre mit Klugheit und Energie und zum großen Segen der Provinzen, aber mit Mißgunst gegen jedermann und mit zunehmender Härte und Grausamkeit, namentlich gegen die Senatoren, geführt hat. In den ersten Jahren hielt er sich zurück; er ordnete das Verhältnis des Senats zum Volk, dessen politische Macht er zugunsten[521] des Senats auf Äußerlichkeiten herabdrückte, und begnügte sich, mißtrauisch die wachsende Beliebtheit des Germanicus, des Sohnes seines Bruders Drusus, zu verfolgen, der, auf Anordnung des Augustus von ihm adoptiert, durch zwei glänzende, obwohl erfolglose Feldzüge gegen die Deutschen (15 u. 16) die Augen der Römer auf sich zog. Nachdem dieser aber 19 gestorben war, geriet er immer mehr unter den Einfluß des Sejanus, des Präfekten der Prätorianer, der diese in Rom in einem Lager vereinigte und die Hauptstadt dadurch in seine Gewalt brachte. Sejanus heuchelte unbedingte Hingebung an den Kaiser, strebte aber mit der nichtswürdigsten Berechnung nach der eignen Herrschaft. Er entfremdete T. seiner Familie, wußte ein Glied nach dem andern zu beseitigen und ließ sogar den einzigen Sohn des Kaisers durch seine von ihm verführte Gemahlin vergiften. Gleichzeitig kam das Unwesen der Delatoren (Angeber) auf, die im Dienste des Sejanus und des T. die Verurteilung aller durch Selbständigkeit oder Freundschaft mit den übrigen kaiserlichen Familienmitgliedern verdächtigen Persönlichkeiten in dem knechtisch gesinnten Senat bewirkten. Ein furchtbarer Druck lastete auf Rom, auch als T., teils um der ihm unbequemen Herrschsucht seiner Mutter aus dem Wege zu gehen, teils von Sejanus beredet, der in Rom völlig freie Hand haben wollte, 26 seinen Wohnsitz nach der Insel Capreä (Capri) verlegte, um nicht wieder nach Rom zurückzukehren. Des Sejanus Herrschaft endete freilich 31, als T. von seinen hochverräterischen Plänen Kunde erhielt und ihn durch den Senat sofort zum Tode verurteilen ließ. Rachsüchtig wütete er gegen den gesamten Anhang des einstigen Günstlings und ließ den Nachfolger des Sejanus, Macro, der jenen listig gestürzt hatte, mit der gleichen Willkür weiterschalten, bis er von eben diesem Macro 16. März 37, bereits im Todeskampfe liegend, in den Kissen seines Lagers erstickt wurde. Getreu dem Rate des Augustus hatte T. auf jede Eroberungspolitik verzichtet; er war mit Erfolg bestrebt, durch Verlängerung der Amtsdauer der Statthalter und durch Ordnung der Verwaltung die Lage der Provinzen zu bessern, die unter der Habsucht und dem schnellen Wechsel der republikanischen Beamten schwer gelitten hatten. Die stolzen, aber edlen Züge seines Gesichts sind uns in mehreren Büsten und Statuen, auch auf dem berühmten Pariser Cameo erhalten (s. Tafel »Gemmen und Kameen«, Fig. 17). Vgl. Stahr, Tiberius' Leben, Regierung, Charakter (2. Aufl., Berl. 1873); L. Freytag, T. und Tacitus (das. 1870), die beide nach dem Vorgang von Sievers den T. durch Herabsetzung des Tacitus zu rechtfertigen gesucht haben; dagegen Pasch, Zur Kritik der Geschichte des Kaisers T. (Altenb. 1866), und Beulé, T. und das Erbe des Augustus (deutsch von Döhler, Halle 1873); Deppe, Kriegszüge des T. in Deutschland (Bielef. 1886); Ihne, Zur Ehrenrettung des Kaisers T. (deutsch mit Zusätzen von Schott, Straßb. 1892); Tuxen, Kejser T. (Kopenh. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 521-522.
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