Esthnische Sprache

[916] Esthnische Sprache. Die Sprache der Esthen gehört zu der Finnischen Familie des großen Altaischen Sprachstammes u. bildet in derselben mit den Tschuden (im engeren Sinne), den Woten u. dem kleinen Reste der Liven die Tschüdische Gruppe der Westfinnischen Sprachen. Sie wird (nach Köpen) von 633,500 Esthen im eigentlichen Esthland, auf der Insel Ösel u. der benachbarten Gruppe, in der ganzen nördlichen u. größeren Hälfte von Livland (im dorpatischen u. pernanischen Kreise, an der ganzen Küste des Busens von Riga, sowie um den Peipussee), auf einem Areal von ungefähr 700 QM. gesprochen. Man unterscheidet drei Dialekte, den Dorpatischen od. östlichen (Peipussee), den Revalschen od. nördlichen (am Finnischen Meerbusen) u. den Pernauschen od. westlichen (am Rigaischen Meerbusen). Der Dorpatische zeigt das alterthümlichste Gepräge; der Revalsche ist der ausgebildetste, in welchem auch meist geschrieben u. gedruckt wird. Als Schöpfer der esthnischen Kirchen- u. Schriftsprache wird der Geistliche Joh. Hornung betrachtet (vgl. Ahrens, Joh. Hornung, der Schöpfer unserer esthnischen Kirchensprache, Reval 1845), als der Restaurator aber in neuerer Zeit Rosenplänker. Obgleich viele deutsche, in neuerer Zeit auch manche russische Wörter in das Esthnische eingedrungen sind, so bleibt sie doch eine der reinsten Finnischen Sprachen. Die Aussprache des Esthnischen ist für den Fremden sehr schwierig durch eine überaus große Anzahl von Diphthongen u. Triphthongen, deren Nuancen dem deutschen Ohr wenigstens meistens entgehen, z.B. au, ou; aa, ää, äi, öi; äi, ei; aua, oua, etc. Die harten Consonanten sch, f, v, z fehlen gänzlich; Häufungen von Consonanten kommen nie vor, u. von den Dentalen, Gutturalen u. Labialen stehen am Anfange der Wörter die harten. Die Declination folgt einer doppelten Regel, je nachdem das Substantiv auf einen Vocal od. Consonanten ausgeht. Im letzteren Fall herrschen bestimmte Gesetze der Lautveränderung. Die Casusformen sind zum Theil ursprüngliche Postpositionen. Für das Verbum bestehen die drei Modificationen des Activums, Passivums u. Negativums. Außer dem Präsens u. Imperfectum werden die übrigen Tempora durch Zusammensetzung mit den Hülfszeitwörtern gebildet. An Beugungsformen arm u. arm an Ideen, ist das Esthnische um so reicher an bildlichen Ausdrücken, womit sie den Begriff beschreiben, so daß selbst die gewöhnliche Umgangssprache in poetischen, oft sehr malerischen Bezeichnungen sich bewegt, u. sie wird hierin von dem sanften, hauchenden Klingen der Laute unterstützt. Der Anfang des Vater Unser lautet: Meije issa taiwan, pühhän dätus sago sinno nimmi, d.h. Unser Vater Himmel in, geheiligt werde dein Name. Vgl. Hupel, Grammatik u. Wörterbuch, Riga 1780, 2. Aufl. Mitau 1818; Fählmann, Über die Declination der E. S., Dorp. 1844; Neus, Revals sämmtliche Namen, Reval 1849; Ahrens, Grammatik der E. S. Revalschen Dialekts, ebd. 1853; Derselbe, Sprachfehler der esthnischen Bibel, ebd. 1853; Wiedemann, Über die neueste Behandlung der esthnischen Grammatik im 2. Bde. der Mélanges Russes, Petersb. 1855.

Die Esthnische Sprache entbehrt bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges aller schriftlichen Documente, wenigstens sind die einzelnen Schriften, welche bis dahin gedruckt wurden, nicht mehr vorhanden. Nachdem durch den Frieden zu Stolhowa 1617 die russischen Kriege aufgehört u. in Frieden zu Altmark 1629 die polnische Herrschaft in Livland ein Ende genommen hatte u. Schulen, so wie Kirchen wieder in Thätigkeit traten, traten auch mehrere Männer auf, welche sich der Cultur der Esthen annahmen. Heinr. Stahl brack um 1630 die Bahn durch seine kurzen u. einfältigen Fragen, die Grundstücke des Christenthums betreffend; ihm folgte Rossinius durch seine esthnische Übersetzung von Luthers Katechismus, Riga 1632; zu gleicher Zeit ließ Stahl für Esthland sein Hand- u. Hausbuch für das Fürstenthumb Esthen in Livland, Riga u. Reval 1632–1639, 3 Bde. (deutsch u. esthnisch) erscheinen u. arbeitete die erste esthnische Grammatik aus, welche 1637 in Reval herauskam, u. endlich den Leyenspiegel, Reval 1641–1649, 2 Bde., bestimmt für Prediger, welche der Esthnischen Sprache nicht mächtig waren. Simon Blankenhagen (Pastor in Reval) gab 1642 eine Postille heraus. Die von Stahl aus dem Deutschen übersetzten esthnischen, seinem Hand- u. Hausbuche angehängten Lieder waren zum Gesange ganz unbrauchbar; daher vereinigten sich mehrere Prediger (Göfeken v. Goldenbeck, Salemann, Breckman u. Martin Gylläus), solche in Reime u. in[916] ein Versmaß zu bringen, u. so erschien 1656 das erste Reval-esthnische Gesangbuch, welches bei allen Kirchen eingeführt wurde. Für den Dorpatischen Dialekt erschien das erste Gesangbuch 1615 von Laur. Moller, Andr. Virginius u. Marc. Schütz. Ebenso wurde für Katechismen gesorgt; im Jahr 1673 erschien der noch jetzt gebräuchliche, freilich nach u. nach mehrfach veränderte Landes-Katechismus in Esthland; 1690 gab Propst Heidrig eine ausführliche Erklärung des Lutherischen Kate-chismus heraus u. 1684 erschien der grosse Katechismus Luthers. Auch auf die Ausbildung u. Erforschung der Sprache selbst wurde Fleiß verwandt, wie solches die in diesem Jahrh. erschienenen esthnischen Sprachlehren von Joh. Gutslav (Dorpat 1641), Göseken (Reval 1660) u. Joh. Hornung (Riga 1693) beweisen. Gutslav begann die Über. setzung des Neuen Testamentes im Dorpatischen Dialekt u. fast zu gleicher Zeit Göseken im Revalschen Dialekt; aber beide Übersetzungen sind verloren gegangen. In Livland wurde die Arbeit aufs Neue begonnen. Nikolaus v. Hardungen, Andr. Virginius u. Marc. Schütz verfertigten endlich eine Übersetzung des Neuen Testamentes im Dorpatischen Dialekt, welche 1686 gedruckt erschien, 5. Aufl. 1839; das Neue Testament im Revalschen Dialekt erschien zuerst 1715 u. in 4. Ausg. 1816. Nach 1730 wurde das Alte Testament durch Ant. Th. Helle u. Eb. Gutslav übersetzt, u. 1789 erschien die ganze Bibel im Revalschen Dialekte, 4. Aufl. 1835. Seit der Übersetzung der Bibel gab man auch andere Schriften heraus; kirchliche Schriften gaben heraus: 1790 I. G. Schnell, 1796 Erxleben, 1774 Henkel, 1788 Luce, 1731 Heinr. Milde, 1793 Frey, 1796 Lücke, 1810 Offe u. 1816 Winkler; Katechismen erschienen mehrere, desgl. Gebet- u. Predigtbücher, so wie Erbauungsschriften; Jugendschriften gaben heraus: 1795 Masing, 1811 Berg, 1782 u. 1790 Arvelius, 1778 Hahn, 1783 u. 1804 Willmann, 1807 u. 1812 Luce, 1803 Marpurg u. 1806 Frey; Gesetzbücher u. Verordnungen erschienen: 1804 von Lenz, so wie von Roth, 1805 u. 1816 von O. R. Holtz; Schriften über die Sprache u. deren Kenntniß von Th. Helle, herausgegeben von Gutslav 1732; Esthnische Sprachlehre von Hupel, Mitau 1780, 1806, 1818; Über die Cultur der Esthnischen Sprache von Arvelius 1792; Beiträge zur genaueren Kenntniß der esthnischen Sprache von Rosenplänker 1813–1832, 20 Hefte; Esthnische Originalblätter von Masing, 1816. Außerdem erschienen eine Zeitschrift von Roth u. Oldekop 1806; Gedichte 1717, 1788, 1806, 1807, 1814 u. 1816; Vermischte Schriften von A. W. Hupel 1766 f., Lenz 1807, Schmidt 1826. Mit dem 2. Jahrzehend des 19. Jahrh. begann ein neuer Eifer für die genauere Kenntniß u. für ein regelrechtes grammatikalisches Studium der Esthnischen Sprache. Die Literatur wurde vielseitiger u. umfangreicher; auch nationale Schriftsteller traten auf. Ein Organ für die Ausbildung der Esthnischen Sprache u. Beförderung der E-n L. war Rosenplänkers Zeitschrift. Nicht minder anregend wirkte die 1817 in Ösell entstandene Esthnische Gesellschaft, von der seit 1838 eine Abtheilung in Dorpat ist. Ausgezeichnete Schriftsteller dieser Periode sind: O. V. Masing, Knüpffer, Holtz, Berg, Schmidt, Willmann u. Henning, Graf Mannteufsell von Mäks u. Kreutzwald in Werro; bes. haben Fählmann u. Kreutzwald die noch im Munde des Volkes umlaufenden mythischen Gesänge zu sammeln begonnen. Die schönsten derselben schließen sich an Kalew (Kalewa der Finnen, s. Kalewala) an u. wurden von Kreutzwald unter dem Titel Kalewipoeg (d.i. Sohn des Kalew) zusammengereiht, von Reinthal übersetzt u. durch die Esthnische Gesellschaft in Dorpat in den Verhandlungen derselben (Bd. 4, Dorp. 1857) publicirt. Schon vorher hatte Neus die Volkslieder (Reval 1850, Dorp. 1853) u. derselbe mit Kreutzwald, Mythische u. magische Lieder der Esthen (Petersb. 1854) veröffentlicht. Sagen, Märchen, Räthsel u. Sprichwörter werden gegenwärtig gesammelt. Ein Verzeichniß der gedruckten Bücher gibt Jürgenson in Kirja kulutaja, Dorp. 1840, sowie in regelmäßigen Übersichten das in Riga erscheinende Wochenblatt Inland.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 916-917.
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