Hermes [1]

[278] Hermes, 1) bei den Römern Mercurius, ein altpelasgischer Gott, personificirt die zeugende u. befruchtende Naturkraft, der Regengott, Sohn des Zeus u. der Maia, u. durch diese Enkel des Atlas, auf dem Berge Kyllene in Arkadien geboren (daher sein Beiname Kyllenios) u. in Akakesion erzogen (daher sein Beiname Akakesios). Kaum lag H. nach der Geburt in der Wiege, so schlich er sich, in sein Betttuch gehüllt, heraus, fand eine Schildkröte, tödtete sie, spannte 7 Saiten über die Schale u. erfand die Zither. Hierauf stahl er dem Apollo Rinder von seiner Heerde, opferte davon zwei u. verbarg die anderen u. gab sie erst auf Befehl des Zeus wieder heraus. Doch ließ ihm Apollo einen Theil der Rinder u. gab ihm eine goldene Ruthe (daher sein Beiname Chrysorrhapis), wofür H. ihm die Ehre der Zithererfindung abließ u. zu seinem eigenen Gebrauch die Hirtenflöte erfand. Aus dieser goldenen Ruthe ist in späterer Mythologie der Caduceus entstanden, ein Stab von zwei Schlangen umwunden, die sich oben die Köpfe zukehren, dies angeblich, weil er zwei mit einander kämpfende Schlangen durch Berührung mit dem Stabe besänftigte. Daher galt der Caduceus nachher als Friedensstab, welchen Herolde vor sich hertrugen, u. H. selbst führte ihn als Zauberstab, durch den er Dinge in Gold verwandelte, Träge rührig machte, Schlafende weckte, die Todten in die Unterwelt trieb etc. u. wovon er den Beinamen Caducĭfer führte. Außerdem trug H. als Götterbote Flügelschuhe u. den Petasos (s. unten). H. galt als Gott der Befruchtung für einen Regenspender überhaupt (daher sein Beiname Erinnios), dann als Gott der Heerden (daher Nomios, Epimelios), als Gott der List (daher seine Beinamen Dolios, Polytropos, Haimylometes) u. aller Werke des praktischen Verstandes, der Redekünste, der Erfindungen, des Verkehrs; er soll Buchstabenschrift, Sprachkunde, Beredtsamkeit, Arithmetik, Musik, Würfelspiel, Ringerkunst (daher Pädokoros, Promachos), Hebel, Handel erfunden haben, daher er gewöhnlich als Gott der Kaufleute angegeben wird u. den Beinamen Kerdoos (Gewinngeber) führt. Daher galt er auch als Schützer der Märkte (daher sein Beiname Agoräos, Marktgott), der Häfen u. der Landstraßen (daher seine Beinamen Hodios u. Enodios, Weggott, u. als Weg weisender Gott Hegemonios), weshalb daselbst Haufen von Steinen (Hermaia od. Hermakes) aufgethürmt zu werden pflegten; daraus sind wieder die sogenannten Hermen (s.d.) entstanden; ferner die Ringschulen (daher seine Beinamen Agonios u. Enagonios), u. in Tanagra wurde er einen Widder tragend (daher Kriophoros) dargestellt. Er hatte auch als Gott des Regens, der in die Erde eindringt u. dieselbe befruchtet, ihre Schlummerer, die Saatenkeime, erweckt u. sie ans Licht bringt, das Amt, die Seelen in die Unterwelt zu führen, daher sein Beiname Nekropompos (Psychopompos, Psychagogos [Todten-, Seelenführer], Chthonios [der Unterirdische]). Aber er führte auch die Seelen aus der Unterwelt hinauf, wie bei den Seelenfesten des Frühlings, bei Todtenwandeln u. Todtenbeschwörungen. So ist er der Vermittler zwischen der Ober- u. Unterwelt u. auch der Gott des Schlafes, weshalb man ihm auch vor dem Schlafengehen Libationen brachte. Im Götterstaate galt er als Bote der Götter, meldete den Menschen die Pläne der Götter (daher Diaktoros, Botschaftbringer) u. ist auf Rath u. Befehl der Götter den Göttern u. Menschen rettender Führer u. Geleiter; so rettete er den Ares aus schweren Banden, geleitet von Athene u. Herakles aus der Unterwelt, zeigte dem Odysseus die Mittel, sich u. seine Gefährten aus der Zaubergewalt der Kirke zu retten, brachte den Priamos durch das griechische Lager in das Zelt des Achilles u. zurück; so erscheint er auch, wo er der Kalypso den Befehl bringt, den Ulysses zu entlassen u. später, wo er den hundertäugigen Argos (s.d.) tödtet (daher sein Beiname Argeiphontes, Argostödter), welcher die Jo bewachte. Seine Kinder waren Eudoxos von Polymele, Kephalos von Hirse, der Räuber Autolykos von Chione, Pan von Dryope, die er in Gestalt eines Bockes genoß, Euander von Carmenta u.a. Fast in allen Städten Griechenlands u. des Römerreiches wurden ihm Feste (Hermaia) gefeiert u. man fand seine Tempel (Hermeia) vorzüglich in Arkadien am Berge Kyllene, dem Orte seiner Geburt, in Athen, auf Samothrake, Lemnos, Imbros, Thasos, der Thracischen Küste (bes. zu Ainos), in Pheneos. Auch bei Todesfällen wurde ihm geopfert, z.B. in Argos am 30. Tage nach dem Tode. Geopfert wurden ihm am 4. Tage des Monats Weihrauch, Honig, trockene Feigen, Kuchen, Schweine, Lämmer, Böckchen, Widder u. die Zungen der Opferthiere; heilig waren ihm die Ohrfinger der Menschen, die Meise, der Ibis, Neuntödter, der Feigenbaum, das Fünffingerkraut u. die Portulaca. Abgebildet ward er als Jüngling mit Flügeln u. Sandalen (als Götterbote), mit Beutel in der Hand, mit Caduceus u. Reisehut (Petasos); immer geschmeidig u. gewandt. Er ist entweder ganz nackt od. trägt nur die Chlamys. Die Flügel sind am Hut, am Kopf, an den Knöcheln (dann Talaria) an den Sohlen, als Sinnbild der Schnelligkeit. Gewöhnlich ist er ohne Bart; nur alte etrurische Werke u. einige Abbildungen auf campanischen Gefäßen stellen ihn mit einem vorwärts gekrümmten Spitzbart dar. Er erscheint bald als Hirt, ein Stück Vieh tragend, od. die Heerde vor sich her treibend, bald als der kleine listige Dieb, bald als Kaufmann mit dem Beutel, auch mit der Lyra, bald als Herold, gewöhnlich als Götterbote. Hermesstatuen u. Hermesgruppen gab es von Phidias, Polyklet, Skopas, Praxiteles etc. In seinem Ideal ist körperliche Schönheit mit geistiger Gewandtheit vereinigt. Attribute sind: Hahn (Wachsamkeit), Schildkröte (Zither), Widder u. Patera (Opferdienst), Harpe (Argostödter). Der römische Mercurius war ursprünglich Gott des Handels u. wurde so mit H. identificirt; sein erster Tempel in Rom befand sich in der Nähe des Circus maximus u. war 495 v. Chr. eingeweiht worden. Auch an dem Capenischen Thore befand sich ein Altar u. Tempel des Gottes. Kaufleute, welche ihn bes. verehrten, feierten ihm am 15. Mai ein Fest (Festum mercatorum), opferten ihm da Weihrauch u. weiheten ihm Geschenke zur Sühnung des im vergangenen Jahre begangenen Unrechts. Wenn römische Schriftsteller die Verehrung des H. in Gallien u. bet den Deutschen melden, so ist nach der Landesreligion dort Teutates, bei den Germanen Wuotan (s. b.) zu verstehen. 2) Bei den Griechen der zwischen den [278] Göttern u. Menschen stehende ägyptische Thot od. der phönicische Taaut (s. b.). Dieser galt für den Lehrer aller Wissenschaften u. Künste u. auf ihn führte Ägypten alle seine Erfindungen, Erkenntnisse u. Wissenschaften zurück, weshalb es ihm auch die Abfassung einer großen Menge von Schriften zuschrieb. Er grub seine Weisheit in Säulen in Hieroglyphen ein. Diese geheimnißvolle Schrift trug dann ein zweiter H. ein Sterblicher, der um die Zeit des Moses gelebt haben soll, in den gemeinen Dialekt über u. schrieb sie in Bücher nieder, die im Heiligthum der Tempel niedergelegt wurden. In 36,525 Abschnitten (Büchern), nach der Anzahl der Jahre des großen ägyptischen Jahres festgesetzt, war die Hermetische Offenbarung geschlossen, u. diese waren wieder in 6 Abtheilungen u. 42 Bücher gebracht. Die erste Abtheilung (10 Bücher) handelte von den Göttern, den Gesetzen u. der priesterlichen Disciplin; die zweite (10 Bücher) befaßte die Ethik u. den gesammten gottesdienstlichen Cultus; die dritte (10 Bücher) den ganzen Kreis der Wissenschaften; die vierte (4 Bücher) die Astronomie; die fünfte (2 Bücher) handelte von der Musik u. der Harmonie des Lebens der Könige; die sechste (6 Bücher) war ganz medicinischen Inhalts. Dieser zweite od. jener erste H. ist derjenige, welcher im neuplatonischen Zeitalter, bes. bei Jamblichos, mit dem Namen H. Trismegistos (H. der Dreimalgrößte) benannt wird, u. dessen Schriften (Hermetische Schriften) man damals aufgefunden u. in die griechische Sprache übertragen haben will, u. das Zeitalter der Alexandrinischen Schule, wo Magie, Theosophie u. Alchemie als Geheimwissenschaften sich ausbildeten, u. auch Schwärmer in neuerer Zeit bezogen sich auf jene Sagen, u. man gab eine ungeheuere Menge als von H. Trismegistos verfaßte Schriften an. Unter diesen sind erhalten: Poëmander s. de potestate ac sapientia divina, zuerst griechisch u. lateinisch von Aug. Bargicus herausgeg., Par. 1554, von H. Rosselt, Köln 1630, Fol., deutsch, Hamb. 1706, u. von A. von Tiedemann, Berl. 1781; Aesculapii definitiones, griechisch u. lateinisch mit mehreren Ausgaben des vorigen Werkes, auch London, 1628; Iatromathematica, griechisch u. lateinisch von Tamerarius, Nürnb. 1532, von Höschel 1597, herausgeg.; Horoscopia, von Fr. Wolf bes. 1559 herausgeg.; Mercurii Trismegisti opera in Fr. Patricii Nova de universis philosophia, Vened. 1593, Fol. Vgl. auch Ursinus, De Zoroastre, Hermete etc., Nürnb. 1661; Lenglet von Fresnoy, L'hist. de la philos. hermétique, Haag 1742; Baumgarten-Crusius, De librorum herm. origine atque indole, Jena 1827. Vgl. Hermetische Medicin.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 8. Altenburg 1859, S. 278-279.
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