Alpenpflanzen

[370] Alpenpflanzen (hierzu Tafel »Alpenpflanzen«, mit Textblatt), Pflanzen, welche die Eigenart der Vegetation der Alpen und andrer mitteleuropäischer Hochgebirge bedingen. Da in der Waldregion der Alpen vielfach die Pflanzen und Pflanzengesellschaften wiederkehren, die in deutschen Mittelgebirgen vorherrschend sind, so haben die A. ihren eigentlichen Stammsitz in den Hochregionen oberhalb der Baumgrenze. Sie steigen aber von dort vielfach auch in die Wildregion und, wie z. B. die Alpenstern blume (Aster alpinus, Fig. 2) und das farbenprächtige Alpenleinkraut (Linaria alpina, Fig. 21), selbst bis zum Tal hinab, wie anderseits gewisse Formen der Ebene auch in das Bergwaldgebiet und selbst in die Hochregion aufsteigen. Die meisten A. sind ausdauernde Pflanzen mit reichentwickelten unterirdischen Teilen. Sie zeichnen sich im allgemeinen durch kurze Stengelglieder und im Verhältnis zur Stengelhölle oft überraschend große, lebhaft gefärbte Blumen aus (vgl. z. B. Dianthus glacialis, Fig. 5; Viola calcarata, Fig. 12; Gentiana, Fig. 13 u. 14; Eritrichium nanum, Fig. 17). Arten, deren nächste Gattungsverwandte im Bergwald und in der Ebene stolze Bäume bilden, sind strauchartig und dem Boden mehr oder weniger angeschmiegt, wie die Legföhre oder Latsche (Pinus montana) und die Alpenweiden (z. B. Salix reticulata. Fig. 6). Ihnen schließen sich andre, wie die Alpenrosen (Fig. 1) und die Alpenheide (Erica carnea, Fig. 10), an zur Bildung einer hochalpinen Strauchformation, die an vielen Stellen des Hochgebirges in urwaldartiger Ursprünglichkeit erhalten ist und manchen schlank aufstrebenden Kräutern (z. B. Astrantia minor, Fig. 9) auch oberhalb der Baum grenze noch eine Heimstätte bietet. Besonders formenreich ist die Flora der Alpen matten und der Geröllhalden. Hier entfalten in bunter Abwechselung mit andern die Lieblinge der Alpenwanderer, Primeln (Fig. 3) und Enziane (Fig. 13 und 14), ihre schönen Blüten, hier finden sich Speik (Valeriana celtica, Fig. 4) und Prunelle (Nigritella angustifolia, Fig. 11), die wegen ihres angenehmen Duftes bei den Frenn den der Berge berühmt sind. Die A. sind in Bau und Lebensweise den klimatischen Erscheinungen, der Kürze des Sommers, der kräftigen Besonnung, dem starken Wechsel der Tag- und Nachttemperaturen, der austrocknenden Wirkung des Win des etc. angepaßt. Die meisten A. sind Frühblüher, wie die Alpenglöcklein (Soldanella, Fig. 22), die ihre Blütenglocken unmittelbar am Rande der abschmelzenden Schneefelder entfalten. Manche sind gegen niedere Temperaturgrade und starken Wechsel so unempfindlich, daß sie selbst noch oberhalb der Grenze des ewigen Schnees an schneefreien Felsen und Geröllhalden und auf dem Moränenschütte der Gletscher gedeihen können (z. B. Ranunculus, Fig. 8 u. 23). Gegen zu große Wasserverdunstung schützt manche A. (z. B. Silene acaulis, Fig. 7) der sehr ausgesprochene Polsterwuchs, andre, wie Dryas octopetala (Fig. 15) und die Alpenweiden (Fig. 6), wachsen spalierartig, dem Boden angeschmiegt, oder es ist die Verdunstungsgröße wie bei dem Edelweiß (Gnaphalium Leontopodium, Fig. 20) durch einen dichten Haarfilz oder wie bei den Sedum- und Sempervivum-Arten (Fia. 16) durch schleim- und gummihaltige Säfte, welche das Wasser schwerer abgeben, herabgesetzt. Die Ähnlichkeit der klimatischen Faktoren, die besonders in der Kürze des Sommers zum Ausdruck kommt, erklärt es, daß in den arktischen Gebieten die Vegetation in Bau und Lebensweise eine gewisse Ähnlichkeit mit den A. zeigt, und daß eine Anzahl der letztern auch in den Polarländern gedeiht. Die Eigenschaften, die bei den A. als Anpassungsmerkmale an bestimmte äußere Verhältnisse erscheinen, sind zum größten Teil erblicher Natur, d.h. sie bleiben wesentlich unverändert, wenn auch die Pflanzen unter gänzlich andern Lebensbedingungen versetzt werden. Bei gewissen Pflanzen aber hat man zeigen können, daß bei veränderter Höhenlage an den Nachkommen einer Mutterpflanze Bildungsabweichungen[370] auftreten, die zu einer Unterscheidung von Berg- und Talformen führen, wobei die erstern sich in der Wuchsform und dem innern Bau den alpinen Verhältnissen in der gleichen Weise wie typische A. direkt angepaßt erweisen.

Bonnier pflanzte von 230 verschiedenen Arten die Stecklinge je derselben Mutterpflanze teils in der Ebene, teils in einer Höhe bis zu 2300 m an.

Fig. 1. Sonnenröschen (Helianthemum vulgare) des Gebirges. Auf 1/2 verkleinert.
Fig. 1. Sonnenröschen (Helianthemum vulgare) des Gebirges. Auf 1/2 verkleinert.

Von den 230 Arten lebten nach sechs Jahren auf der Bergeshöhe noch 123. Einige von ihnen zeigten nur geringe Veränderungen, andre aber wichen in ihrer Wuchsform von den in der Ebene erwachsenen Schwesterpflanzen sehr auffällig ab und näherten sich in ihrem Verhalten gerade demjenigen der typischen A. Ihre unterirdischen Teile, Wurzeln wie Rhizome, verdickten, verlängerten und verzweigten sich stärker, während die oberirdischen Teile, mit Ausnahme der Blüten, in der Größe zurückgingen, so daß großblutige Zwergformen mit kürzern Stengelgliedern und kleinern, aber dickern und festern Blättern entstanden waren (Textfig. lu. 2).

Fig. 2. Sonnenröschen der Ebene. Stärker verkleinert.
Fig. 2. Sonnenröschen der Ebene. Stärker verkleinert.

Mit den äußern Veränderungen des Wuchses halten bei solchen Anpassungen innere anatomische Schritt, Wurzeln und Stengel bilden ein dickeres Rindengewebe, ein stärkeres Oberhäutchen (cuticula) und dickwandigere Zellen, Schutzeinrichtungen gegen das rauhere Höhenklima aus, welche die erwähnte Zurückziehung des vegetativen Lebens auf die unterirdischen Organe und die Zusammendrängung der Blätter zu Rosetten und Polstern, die sich flach dem Boden anschmiegen, ergänzen, um den Sprüngen der Temperatur, der Lufttrockenheit und starken Besonnung in der Höhe besser zu begegnen. Die Blätter werden in der Höhe dicker, dunkelgrüner, reicher an Palisadenzellen, die sich in mehreren Reihen übereinander ordnen und das Licht zur intensivern Arbeit während des kurzen Sommers tiefer eindringen lassen. Zugleich vermehrt sich die Zahl der Chlorophyllkörnchen in den Blattzellen und der Farbstoffkörnchen in den Blütenzellen, soweit diese körnige Pigmente enthalten.

Als Bonnier Pflanzen der Ebene, die auch noch in beträchtlichen Höhen gedeihen, wie Wiesenklee (Trifolium repens), Gamander (Teucrium Scorodonia), Jakobskraut (Senecio Jakobaea) und Sämlinge von Wicke, Hafer und Gerste in geschlossenen doppelwandigen Kästen kultivierte, worin sie über Nacht mit schmelzendem Eis umgeben waren, während am Tage die Bedachung geöffnet wurde, so daß sie in freier Luft standen, ergaben sich bald auffällige Unterschiede von andern unter gewöhnlichen Bedingungen gezogenen oder beständig mit Eis umgebenen Pflanzen derselben Art und Abstammung; schon nach zwei Monaten zeigten sie gedrungenen niedrigen Wuchs, kleinere, dickere und festere Blätter, beschleunigte Blütenentwickelung und alle Charaktere der Alpenformen derselben Pflanzen, wenn sie in 1600–1800 m Höhe gezogen worden waren, so daß man für erwiesen halten kann, es sei jener starke Temperaturwechsel der Höhenlagen die hauptsächlichste Ursache des besondern Habitus der A. Es handelt sich hierbei also im wesentlichen um eine Anpassungserscheinung, und bei Pflanzen, die in höhern und niedern Lagen gedeihen, geht der alpine Habitus alsbald zurück, wenn sie aus der Höhe in die Ebene zurückverpflanzt werden. Da aber die habituellen Veränderungen der eigentlichen A., die niemals in der Ebene gefunden werden, in derselben Richtung liegen, so ist die Vermutung begründet, daß auch die jetzt erblichen Anpassungsmerkmale der A. unter der Einwirkung des Alpenklimas erworben und in jahrzehntausendelanger Entwickelung erblich fixiert worden sind. Manche Pflanzenfamilien, die in der Ebene artenreich sind, wie die Labiaten, Papilionazeen u.a., haben in der Alpenflora nur wenige Vertreter, andre dagegen, wie die Primeln (Fig. 3), die Enziane, die Steinbrecharten (Fig. 18 u. 19), die Kampanulazeen, entfalten in der Hochregion einen überraschenden Formenreichtum. Zum Zwecke der wissenschaftlichen Erforschung der Biologie der A. hat man in neuerer Zeit botanische Alpengarten in der Hochgebirgsregion angelegt. Manche A. gedeihen bei geeigneter Pflege auch in der Ebene und werden in botanischen Gärten zu wissenschaftlichen Zwecken und in Privatgarten als Ziergewächse gezogen (vgl. Pflanzenschutz).

Literatur: Christ, Verbreitung der Pflanzen der alpinen Region der europäischen Alpenkette (Zür. 1867); Derselbe, Pflanzenleben der Schweiz (das. 1879). Als Taschenbücher zum Bestimmen der A. vgl. Wünsche, Die A. (2. Ausg., Leipz. 1896); Hausmann, Flora von Tirol (Innsbr. 1854). – Abbildungen der A.: Weber, Die A. Deutschlands und der Schweiz (4. Aufl., Münch. 1878, 4 Bde.); Seboth, Die A., mit Text von Graf (Prag 1879–84, 4 Bde.); Bennett, The flora of the Alps (Lond. 1896, 2 Bde.); Daffner, Die Voralpenpflanzen[371] (Leipz. 1893); Schröter, Taschenflora des Alpenwanderers (3. Aufl., Zür. 1892); Fünfstück, Taschenatlas der Gebirgs- und A. (Stuttg. 1896); »Atlas der Alpenflora«, hrsg. vom Deutschen und Österreichischen Alpenverein (Graz 1897), dazu Text von Dalla Torre, Die Alpenflora (Münch. 1899). Anweisung zur Kultur der A. in Gärten: Kolb, Die europäischen und überseeischen A. (Stuttg. 1889); Wocke, Die A. in der Garten kultur (Berl. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 370-372.
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