Erasmus [2]

[884] Erasmus, Desiderius, genannt E. von Rotterdam, Humanist, geb. 28. Okt. 1466 in Rotterdam, gest. 12. Juli 1536 in Basel, stammte aus einer ungesetzlichen Verbindung der Tochter eines Arztes mit Gerhard de Praet aus Gouda in Holland, erhielt daher den Namen Gerhard Gerhards (nämlich Sohn; holländ. Geert Geerts), den er in den lateinisch-griechischen Namen Desiderius E. (der »Ersehnte, Vielgeliebte«) umwandelte, und hatte wahrscheinlich den Familiennamen Roger oder Rogers. In Gouda und seit seinem 10. Lebensjahr vier Jahre lang in der Schule des Alexander Hegius zu Deventer unterrichtet, weilte er nach dem Tode seiner Eltern drei Jahre in dem Brüderhaus zu Herzogenbusch, dann wieder in Gouda, und trat 1486 ohne innern Drang in das Kloster Emmaus oder Stein bei Gouda, folgte daher 1491 gern einem Rufe des Bischofs von Cambrai dorthin und ging 1496 unter dessen Beihilfe nach Paris. In den nächsten Jahren finden wir ihn abwechselnd in Frankreich, England, wo er mit dem Kanzler Th. Morus, John Colet u.a. Freundschaft schloß, und in den Niederlanden. 1506 reiste er nach Italien, wurde in Turin Doktor der Theologie. verkehrte in Bologna mit tüchtigen Kennern des Griechischen, verweilte längere Zeit in Venedig, wo Aldus Manutius sein Freund war, und wurde in Rom vom Papst seines Ordensgelübdes entbunden. Infolge der Thronbesteigung Heinrichs VIII. in England (1509) eilte er dorthin und lehrte in Cambridge Griechisch, erhielt 1511 auch die Pfarrei von Aldington bei Canterbury. Doch weilte er seit 1513 überwiegend in Deutschland, trat 1516 als königlicher Rat in die Dienste des spätern Kaisers Karl V. und lebte als solcher erst in Brüssel, dann in Löwen ohne öffentliches Lehramt bloß seinen Studien. Seit 1521 in Basel heimisch, entfaltete er im Verein mit Ökolampadius, Beatus Rhenanus, Glareanus und andern Gelehrten sowie den Buchdruckern Froben und Amerbach, trotzdem er von Kränklichkeit heimgesucht wurde, eine wunderbar reiche literarische Tätigkeit. Als 1529 in Basel die Reformation siegte, siedelte er nach dem katholischen Freiburg über. 1535 einer Einladung der Statthalterin der Niederlande Folge leistend, erkrankte er auf der Durchreise in Basel und starb daselbst. E. ist der umfassendste und geistreichste Humanist des 16. Jahrh. In religiöser Beziehung hat er durch die Freiheit des Geistes, mit der er gewisse Einrichtungen der Kirche, besonders das Mönchtum und den Scholastizismus, geißelte, die Reformation vorbereiten helfen. Doch wendete er sich immer mehr von dem kühnen Volksmann Luther ab, schon weil ihm das exklusive Interesse der klassischen Studien in erster Linie stand. In der »Diatribe de libero arbitrio« (Basel 1526) griff er Luther direkt an. Dieser antwortete mit der Schrift »De servo arbitrio«, und E. entgegnete wieder in dem leidenschaftlichen »Hyperaspistes«. Etwas früher hatte er auch Huttens »Expostulatio cum Erasmo« die bittern und für ihn wenig ehrenvollen »Spongia adversus Hutteni aspergines« entgegengesetzt. So verbitterten ihm die Fehden, in die er nach beiden Seiten verwickelt wurde, den letzten Teil seines Lebens. Seine wichtigsten philologischen Schriften, die z. T. in vielen Auflagen wiederholt wurden, sind: »De duplici rerum ac verborum copia« (Par. 1512); »De ratione studii et instituendi pueros commentarii« (das. 1512); »De octo partium orationis constructione« (Straßb. 1515); »De conscribendis epistolis« (Basel 1522); »Familiarium colloquiorum opus« (das. 1524; hrsg. von Stallbaum, Leipz. 1828; Textausgabe, das. 1867, 2 Bde.); »De recta latini graecique sermonis pronunciatione« (das. 1528), wodurch er die noch jetzt gebräuchliche Aussprache des Griechischen (s. Etazismus) veranlaßte; »Ciceronianus s. de optimo genere dicendi« (das. 1528), worin er die Alleinherrschaft des ciceronianischen Stils bekämpfte, sowie die Ausgaben von Catos Sittensprüchen (Lond. 1514), Seneca (Basel 1515 u. 1529), Sueton (1518), Ciceros »Offizien« (1519) und »Tuskulanen« (1523), Plinius' »Historia mundi« (1525), Aristoteles (erste vollständige Ausgabe, 1531), Terenz (1532), Ptolemäos (1533, editio princeps); endlich die Sammelschriften »Adagia« (Sprichwörter, zuerst Par. 1500), »Parabolae s. similia« (Straßb. 1514), »Apophthegmata« (sinnreiche Aussprüche, Basel 1531). Auf theologischem Gebiet hat er die Editio princeps des griechischen Neuen Testaments mit lateinischer [884] Übersetzung (Basel 1516; 2. Aufl. 1519, nach der Luther übersetzt hat; dann 1522, 1527, 1535) geliefert, an die sich seit 1518 die für das Schriftverständnis höchst belangreichen Paraphrasen schlossen; ferner Ausgaben zahlreicher Kirchenväter, des Hieronymus (Basel 1516–24, 9 Bde.; 3. Aufl. 1533), Cyprian, Arnobius, Hilarius, Irenäus, Chrysostomus, Ambrosius, Augustin, Origenes; außerdem »Enchiridion militis christiani« (Antwerp. 1609), »Institutio principis christiani« (Löwen 1516), »Ecclesiastes s. de ratione concionandi libri IV« (Basel 1535, die erste nach festem Plan ausgeführte Homiletik) u.a. Sonst nennen wir das »Encomium moriae« (»Lob der Narrheit«, Par. 1509 u. ö.; mit den berühmten Randzeichnungen, durch die Hans Holbein ein Exemplar der Frobenschen Ausgabe von 1514 geziert hat, Basel 1676 u. ö.; Havre 1839; hrsg. von Kan, Haag 1898; deutsch, St. Gallen 1839, und von Frank, Leipz. 1884). Die erste Sammlung von E.' Schriften, zu der er selbst schon Anstalten getroffen hatte, erfolgte durch Beatus Rhenanus (Basel 1540–41, 9 Bde.). Die beste Ausgabe besorgte Clericus (Leclerc, Leid. 1703–1706, 10 Bde.); im dritten Bande derselben ist auch die beste Sammlung seiner lebensvollen Briefe enthalten. Von den zahlreichen Biographien nennen wir die von Stichart (Leipz. 1870), Durand de Laur (Par. 1872, 2 Bde.), Drummond (Lond. 1873, 2 Bde.), Feugère (Par. 1874), Pennington (Lond. 1874), Froude (das. 1894), Emerton (das. 1899). Vgl. auch Hoffmann, Essai d'une liste d'ouvrages et dissertations concernant la vie et les écrits d' Erasme, 1518–1866 (Brüssel 1866); W. Vischer, Erasmiana (Basel 1876, Programm); Kan, Erasmiana (Rotterd. 1881 u. 1892, Programme); P. de Nolhac, Érasmeen Italie (mit unedierten Briefen, Par. 1888); Emile Amiel, Un libre-penseur du XVI. siècle: Érasme (das. 1889); A. Richter, Erasmus-Studien (Dresd. u. Leipz. 1891); Hartfelder, E. von Rotterdam und die Päpste seiner Zeit (im »Historischen Taschenbuch«, das. 1892); Lezius, Zur Charakteristik des religiösen Standpunktes des E. (Gütersl. 1895); Tögel, Die pädagogische Anschauung des E. in ihrer psychologischen Begründung (Dresd. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 884-885.
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