Ethnŏgraphie

[927] Ethnŏgraphie (v. gr., Völkerbeschreibung, Völkerkunde), diejenige Wissenschaft, welche die Menschen in ihrer Verbreitung über die Erde nach Völkern, im allgemeinen ethischen Sinne des Worts, als Gesellschaften, welche durch gemeinschaftliche sittliche Bande bewirkt u. zusammengehalten werden, betrachtet. Da nun Sprache, Glaube u. Recht die allgemeinsten u. zugleich stärksten sittlichen Bande sind, durch welche die Menschen sich zu Völkern vereinigen, so müssen dieselben auch die Hauptquellen u. Ausgangspunkte der ethnographischen Forschung bilden. Der Ethnograph bezweckt einerseits, die Erkenntniß der geistigen Eigenthümlichkeiten od. des nationalen Geistes eines Volkes, wiederselbe in Sprache u. Literatur, Staat u. Religion, Recht u. Sitte, überhaupt in der ganzen Geschichte desselben zur Erscheinung kommt; andererseits sucht er die Stellung zu ermitteln, welche die einzelnen Völker theils untereinander, theils zu höhern Einheiten (Völkerfamilien, Sippen, Gruppen u. Stämmen) u. endlich zur Gesammtheit der Menschen überhaupt einnehmen. Die E. hat es jedoch nur eben mit Völkern im allgemeinern ethischen Sinne des Wortes zu thun, nicht mit Völkern im engern ethischen Sinne des Wortes, den Staaten, die durch engere geistige u. materielle Bande gebildeten Vergesellschaftungen der Menschen. Daher unterscheidet sie sich auch selbst von der Völkergeschichte, der nach der sogenannten Ethnographischen Methode dargestellten Universalgeschichte. Der Mensch läßt sich jedoch nicht blos als Mitglied der zur sittlichen Entwickelung bestimmten Menschheit auffassen, sondern auch als ein zur organisirten Schöpfung gehöriges Naturwesen. Letzteres geschieht in einer andern, rein naturhistorischen Disciplin, welche von Neueren durch den Namen Ethnolŏgie von der E. unterschieden wird u. die Verbreitung des Menschengeschlechts nach seinen physischen Abstufungen über die Erdoberfläche zum Gegenstande hat u. die Völkerstämme u. Völkerschaften nur als Varietäten u. weitere Nüancirungen der Racen u. diese wieder nur als Abarten od. (nach Einigen) auch Arten der zoologischen Species (od. auch Gattung) Mensch betrachtet. Die Fragen über Abstammung u. Einheit des Menschengeschlechts, die physischen u. psychischen Unterschiede der Racen, die Racenvermischung bilden die besprochensten Punkte dieser sich erst entwickelnden Wissenschaft, welche von Blumenbach zuerst angeregt, von Prichard in seinen Researches into the physical history of mankind (3. Aufl., Lond. 1836–47, 5 Bde.; deutsch von Wagner u. Will, Lpz. 1840–48, 4 Bde.) zuerst systematisch behandelt, u. in neuester Zeit bes. durch Schädelmessungen u. andere Untersuchungen der amerikanischen Schule Mortons vielfach gefördert wurde. Wie die Pflanzengeographie zur beschreibenden Botanik, die Thiergeographie zur beschreibenden Zoologie, so verhält sich die Anthropogeographie od. Ethnogeographie zur Ethnologie. Letztere bildet wiederum einen Theil der Naturgeschichte des Menschen, während die E. eine rein historische Disciplin ist, welche, ähnlich der Chronologie u. Geographie, für eine der Grundlagen der Geschichte gelten muß Die Quellen, aus welchen der Ethnograph schöpft, sind Sprache u. Literatur, die Mythologie, das Recht, das Staatswesen, überhaupt die ganze Geschichte eines Volks, sei es eines ausgestorbenen od. verschollenen, sei es eines noch lebenden u. schaffenden; der Ethnolog hingegen arbeitet wieder Naturforscher, messend, beobachtend u. beschreibend, indem er sich nur auf die lebenden Völker beschränkt, da die todten für ihn nur dieselbe Bedeutung haben können, wie die untergegangenen Thier- u. Pflanzenarten für den Zoologen u. Botaniker.

Früher u. selbst noch häufig in neuerer Zeit verstand man unter E. ein mehr od. minder systematisch angeordnetes Conglomerat von Notizen über physische Beschaffenheit, die Sitten u. Gebräuche, Tracht, Religion, Regierungsform fremder, bes. weniger civilisirter Völker, welches man als einen Theil od. eine Beigabe zur Geographie betrachtete u. behandelte. Zur wirklichen Wissenschaft erhoben wurde die E. erst in neuester Zeit u. ist als solche eine Schöpfung der Deutschen. Obgleich sie noch keine umfassende Bearbeitung erfahren hat, so sind doch bereits eine Anzahl monographischer Arbeiten theils über einzelne Abschnitte u. Probleme, theils über einzelne Stämme u. Völker vorhanden. Soz.B. über die Deutschen von I. Grimm, Zeuß, Bernhardi, Stricker; über die Celten von Diefenbach, Zeuß, Holtzmann, Brandes; über die Skandinavier von Munch; über die Slawen von Schafarik, Nadeschdin, Köppen; über die Finnen von Sjögren, Castren, Lönnrot, Köppen, Schiesner; über die turkischen Völker von Röhrig, Schott, Böhtlingk,[927] v. d. Gabelentz, Castren, Schiefner, Beresin; über die Malayen u. Polynesier von W. von Humboldt, Newbold, Buschmann, Junghuhn, Logan, Roorda; über die Indier von Lassen, Caldwell, Graul; über die Semiter von Ewald, Gesenius, Tuch, Movers, Knobel, Renan, Oppert; über die Indianer Amerikas von Gallatin, Schoolcraft, d'Orbigny, Squiers, Tschudi, Brasseur de Berbourg, Müller etc. Außerdem sind unzählige Mittheilungen in Zeit- u. Gesellschaftsschriften, sowie in Reisewerken niedergelegt. Auch sind bereits eigne Gesellschaften für ethnographische Forschungen zusammengetreten, wie die Societé ethnographique in Paris, die Ethnological Society in London u. die Ethnological Soc. in New-York, welche Denkschriften veröffentlichen u. auch die Anlage größerer ethnographischer Museen begonnen haben. In neuster Zeit haben in solchen Staaten, die wie namentlich Österreich u. Rußland, verschiedene Nationalitäten in sich schließen, die ethnographischen Forschungen von Seiten der Regierungen thätige Unterstützung erfahren. Unter den mehrfach angestellten Versuchen, die Ergebnisse der ethnographischen Forschung auf Karten bildlich zu veranschaulichen sind die Blätter von Berghaus in dessen Physikalischem Atlas (Abth. 8, Gotha 1852) hervorzuheben. Von den Karten über einzelne Völkergebiete sind zu nennen: Bernhardi, Sprachkarte von Deutschland (2. Aufl., Kassel 1849); Schafarik's Slovansky zemevid, in dessen Slovansky narodopis (3. Aufl., Prag 1848); die Karte des romanischen Gebiets von Fuchs u. Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen, Halle 1849. Mehr im statistischen als rein ethnographischen Interesse gehalten sind Czörnig's Ethnographische Karte des Österreichischen Kaiserstaats (4 Blätter, Wien 1857), zu dessen Ethnographie des Österreichischen Kaiserstaats (Bd. 1–3, Wien 1857) gehörig, u. Köppens ethnographische Karte vom Europäischen Rußland (4 Blätter, Petersb. 1854, russisch). Allgemeinere ethnographische Schriften veröffentlichten in neuerer Zeit Berghaus (Die Völker des Erdballs, Brüssel u. Leipzig, 1845–47, 2 Bde.); Koiegk (Die Völkerstämme u. ihre Zweige, Frankf. 1848); Frankenheim (Völkerkunde, Breslau 1853); ferner Latham in England, Gobinau u. Maury in Frankreich, Morton, Nott, Gliddon u. A. in Nordamerika. Die Arbeiten der Ausländer gehören jedoch mehr der Ethnologie als der E. an. Überhaupt herrscht über den Begriff u. Umfang dieser Disciplinen noch wenig Übereinstimmung.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 927-928.
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