Odysseus

[328] Odysseus, bei den Römern Ulysses, der listigste und verschlagenste der Helden vor Troja, dessen Abenteuer die Odyssee Homer's (s.d.) feiert, war König der kleinen Inseln Ithaka und Dulichium an der Küste von Albanien und Gemahl der Penelope, der als Muster der Treue und häuslichen Tugend berühmten Tochter des spartan. Königs Ikarion's, deren Hand er als Sieger in dem von ihren Freiern gehaltenen Wettlauf erhielt. O. gehörte unter die zum Schutze des Gemahls der schönen Helena (s.d.) verschworenen Freier um dieselbe, suchte aber dennoch die Theilnahme an dem nach Entführung der Helena beschlossenen trojan. Kriege durch verstellten Wahnsinn zu umgehen, weil ihm vorhergesagt worden war, daß er erst nach 20 Jahren daraus zurückkehren werde. Nachdem er aber der Verstellung überführt worden, schloß er sich den übrigen Griechen mit 12 Schiffen an und da eine andere Prophezeiung Denjenigen, welcher zuerst die trojanische Erde berühren werde, als das erste Opfer des Todes vor Troja bezeichnete, warf er bei der Landung zuerst seinen Schild ans Ufer und sprang auf diesen, wodurch Protesilaos verleitet wurde, ihm sorglos nachzuspringen und dadurch der Weissagung verfiel. O. kundschaftete den von seiner Mutter verborgenen Achilles (s.d.) aus, ohne welchen Troja nicht erobert werden konnte, gelangte während der Belagerung als Bettler nach Troja und zeichnete sich [328] auch durch große Rednergaben aus, daher er oft der glückliche Vermittler von Streitigkeiten der Belagerer war; auch befand sich O. als Anführer unter den in jenem hölzernen Pferde versteckten Griechen, welches die Trojaner nach dem verstellten Abzuge der Belagerer, der Warnung der Kassandra ungeachtet, in die Stadt zogen und deren Eroberung dadurch herbeiführten. Nach derselben war er vom Schicksal bestimmt, noch zehn Jahre an verschiedenen Inseln und Küsten umherzuschweifen und die seltsamsten Abenteuer zu bestehen. Er gerieth dabei ins Land der Lotophagen oder Lotosesser, also gegen Libyen, wo es seinen auf Kundschaft ausgesendeten Begleitern so gut gefiel, daß er sie mit Gewalt aufs Schiff zurückholen mußte. Auf Sicilien fiel er in die Gewalt des ungeheuern Cyklopen Polyphem, eines Sohnes des Neptun, den er um gastfreie Aufnahme gebeten hatte, von dem aber O. und seine Begleiter in seine Höhle eingesperrt und sechs der Letztern verzehrt wurden. Dasselbe Loos stand Allen bevor, hätte nicht O., der sich auf des Cyklopen Frage Utis, d.h. Niemand, genannt hatte, denselben mit Wein betrunken gemacht und in diesem Zustande seines einzigen Auges beraubt. Auf das Gebrüll desselben kamen zwar die benachbarten Cyklopen herbei, weil ihnen aber Polyphem auf die Frage, ob ihm durch List oder Gewalt Gefahr drohe, zur Antwort gab: »Niemand hat mich überlistet«, entfernten sie sich in der Meinung, er habe sie nur zum Besten. Der geblendete Cyklop setzte sich nun an den Ausgang seiner Höhle und fühlte, während er am Morgen seine Schafheerde hinausließ, sorgfältig umher, daß keiner von seinen Gefangenen ihm entwische. O. hatte aber je drei und drei Widder zusammengebunden, und unter den mittelsten immer einen von seinen sechs übrigen Begleitern befestigt; er selbst klammerte sich unter dem Bauche eines der größten Schafe fest und Alle entkamen auf diese Art glücklich in ihr Schiff, versorgten sich noch mit Schafen und segelten dann ab. Als O. in sicherer Entfernung vom Ufer zu sein glaubte, kündigte er dem Polyphem seine Flucht durch Zuruf an; dieser schleuderte aber hierauf ein gewaltiges Felsenstück so weit ins Meer hinaus, daß es jenseit des Schiffes niederfiel und dies von den Wellen wieder ans Ufer zurückgetrieben wurde. Schweigend ruderte O. wieder davon, konnte aber doch nicht umhin, den Cyklopen nochmals zu verhöhnen und ihm seinen wahren Namen zu sogen, worauf sich dieser zu spät der von einem Wahrsager erhaltenen Warnung vor O. erinnerte, durch den er blind werden würde. O. gelangte nun zur Insel des Äolus, des Beherrschers der Winde, von dem er mit einem Schlauch beschenkt wurde, in welchem alle widrigen Winde eingeschlossen waren. Im Angesicht von Ithaka öffneten aber die neugierigen Gefährten des O., während dieser schlief, jenen Schlauch, wodurch ein Sturm entstand, welcher ihre Schiffe von Neuem verschlug. Er verirrte sich hierauf zu den menschenfressenden Lästrygonen, entkam ihnen jedoch und landete nun auf der Insel der Zauberin Circe (s.d.), bei der er ein Jahr blieb und dann auf ihren Rath in die Unterwelt hinabstieg, um die Seele des Sehers Tiresias über seine künftigen Schicksale zu befragen. Er gerieth sodann zu den Sirenen (s.d.), fuhr an der Scylla und Charybdis vorüber und ward endlich als der einzige dem Schiffbruche seines Fahrzeugs Entgangene, von der Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia aufgenommen, die ihn sieben Jahre bei sich behielt. Erst auf Betrieb der Minerva, deren Liebling O. war, gab Jupiter der Kalypso Befehl, ihn mit allem Nöthigen zur Erbauung eines Fahrzeugs zur Heimreise zu versehen, das aber Neptun ebenfalls zertrümmern machte. Der Beistand der Meergöttin Leukothea rettete ihn aber auf die Insel der Phäakier, Scheria genannt, von wo er reich beschenkt nach Ithaka gebracht, dort schlafend ans Land gesetzt und von der Minerva in einen Bettler verwandelt, endlich in sein Haus gelangte, wo ihn nur sein alter Hund zu kennen schien. Er fand seine treue Penelope von Freiern umlagert wieder, die sie schon lange damit hingehalten hatte, daß sie sich vor Beendigung eines großen Todtengewandes für ihren Schwiegervater Laërtes nicht entscheiden könne; dies Gewand wollte aber nicht fertig werden, weil sie nächtlich die Arbeit des Tages auftrennte. Als jedoch diese List von ihren Mägden verrathen worden war, bestimmte sie Dem ihre Hand, der den Bogen des O. spannen und einen Pfeil durch zwölf hintereinander aufgesteckte Ringe schießen werde. O. hatte schon für diesen Fall mit seinem Sohne Telemach (s.d.) Abrede genommen und that diesen Meisterschuß, nachdem zwei der Freier den Bogen umsonst versucht hatten. Dann schüttelte er sein Bettlergewand ob, erlegte von einem erhöhten Orte aus sämmtliche Freier mit Pfeilschüssen, während Telemach und ein paar bewaffnete Hirten ihm zur Seite standen; die verrätherischen Mägde wurden gehenkt. Hiernach gab er sich der Penelope zu erkennen, die nur mit Mühe an seine Wiederkehr glauben lernte, und fand auch seinen Vater Laërtes noch am Leben. Nach einer langen friedlichen Regierung ward O. im Kampfe mit Telegonus, einem seiner Söhne von der Circe, getödtet, der als Schiffbrüchiger nach Ithaka gekommen war und sich genöthigt sah, vom Raube zu leben.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 328-329.
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