Temperamente

[386] Temperamente werden Verschiedenheiten in der Art zu empfinden und zu handeln genannt, welche vorwaltend und zugleich bleibend durch die besondere körperliche und zum Theil auch geistige Beschaffenheit jedes Einzelnen bedingt sind und hauptsächlich in dem Verhältnisse der Empfänglichkeit des belebten menschlichen Organismus für äußere Eindrücke zu der Rückwirkung desselben gegen die Außenwelt sich kundgeben. Man unterscheidet namentlich vier Temperamente, die indeß nicht streng geschieden, sondern mehr oder weniger miteinander vermischt vorkommen, obschon immer eins derselben als vorherrschend nachzuweisen sein wird. Sie sind: 1) das cholerische oder warmblütige Temperament, welches sich durch ebenso hohe Empfänglichkeit für äußere Einflüsse, wie kräftige Rückwirkung gegen dieselben charakterisirt; 2) das sanguinische oder leichtblütige Temperament mit vorwaltender Empfänglichkeit und schwacher Gegenwirkung; 3) das melancholische oder schwerblütige Temperament mit vorherrschendem Wirkungsvermögen und geringer Empfänglichkeit; endlich 4) das phlegmatische oder kaltblütige Temperament mit gleich geringem Vermögen der Empfänglichkeit und Rückwirkung. Der körperlich und geistig begründete Charakter der verschiedenen Temperamente verräth sich oft schon in der ganzen äußern Erscheinung des Menschen, im Umfang und Bau seines Körpers, in der Farbe der Haut und der Haare, im Pulsschlage und Athemholen, im Blick, in der Sprache, in der Haltung, in dem Gange und überhaupt in allen Bewegungen, insoweit diese als der Ausdruck innerer Seelenthätigkeit betrachtet werden dürfen. Insbesondere beurkundet sich das cholerische, feurige, warmblütige, raschthätige, nervöse Temperament durch einen kräftigen, gedrungenen und doch leichten Körperbau, nicht plumpe, aber doch feste Knochen, Schärfe der Sinne, feurigen Blick, meist schwarzes Auge, dichtes, oft lockiges Haar, scharfgezeichnete Gesichtszüge, bräunliche Hautfarbe, feste Haut, vollen, härtlichen Puls, kräftiges Athemholen, starke, volle, sonore Stimme, rasche Sprache, raschen und zugleich festen Gang, gerade Haltung des Körpers, große Behendigkeit, mehr Geneigtheit zur Magerkeit als zur Wohlbeleibtheit, in geistiger und gemüthlicher Beziehung durch starke Leidenschaften, Geneigtheit zum Zorne, feurige, aufopfernde Liebe wie glühenden Haß, Begeisterung für alles Große und Romantische, Liebe zur Freiheit, aber auch Durst nach Ehre, Ruhm, Herrschaft, Wohlgefallen an Pracht und Pomp, aber nicht am äußern Scheine, Kraftgefühl und daher Unternehmungslust, Reichthum an geistigen Fähigkeiten, schnelles Auffassungsvermögen, raschen Überblick, Schärfe des Urtheils, feurige Einbildungskraft, raschen, entschiedenen Willen, Stolz, Geneigtheit zum Egoismus, aber auch Großmuth. Obschon nun das Temperament weder an das Geschlecht noch an das Lebensalter gebunden ist, beobachtet man das cholerische Temperament doch vorzugsweise beim männlichen Geschlecht und im reifern Lebensalter. – Bei dem melancholischen, schwerblütigen Temperamente findet im Allgemeinen Schlaffheit in den Muskeln und Trägheit im Blutumlaufe mit Anhäufung und Stockung des Blutes im Unterleibe und wenig Leben in der Haut statt. Melancholiker pflegen in der Regel eine lange, hagere Gestalt, einen wohlgebildeten, aber mehr länglich geformten als breiten Kopf mit schlichtem, schwarzem, weichem Haupthaar, eher weiche als scharfe Gesichtszüge, glanzlose Augen, einen kalten, gleichgültigen Blick, einen langen Hals, schmale Schultern, platte Brust, eine nicht starke, klanglose Stimme, einen schwachen Puls zu haben und eine gewisse Abgemessenheit in allen Bewegungen an den Tag zu legen. Gemüthlich charakterisirt sich der Melancholiker durch Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt, Unempfindlichkeit gegen äußere, eigne und fremde Noth, dennoch aber tief innere Leidenschaftlichkeit, wie er denn überhaupt eine verschlossene Welt in sich trägt. Er ist zum Trübsinne, zur Unzufriedenheit und Bitterkeit, zum Argwohne, ja zum Menschenhasse geneigt, liebt in Kunst und Natur das Erhabene, Schauerliche, wird leicht zum religiösen Schwärmer, flieht rauschende Vergnügungen und lustige Gesellschaften, sucht im Gegentheil die Einsamkeit, neigt sich in geistiger Hinsicht zu tieferm Denken, Grübeln, fixen Ideen und strebt vorzugsweise nach innerer Abgeschlossenheit und Vollendung. Auch zu diesem Temperamente neigt sich mehr das männliche als das weibliche Geschlecht, mehr das höhere als das jugendliche Lebensalter. – Das sanguinische, leichtblütige Temperament spricht sich körperlich durch einen zarten, oft schlanken Körperbau, dünne Knochen und Muskeln, blühende Gesichtsfarbe, eine zarte, weiße, weiche Haut, blaue oder braune Augen, muntern, lebhaften Blick, blonde oder braune Haare, heitern Gesichtsausdruck, langen Hals, schmale Brust, mehr weibliche als männliche Stimme, hastige Sprache, rasche, aber unstäte Bewegungen, wie überhaupt Mangel an Ausdauer bei allen Anstrengungen, auffahrendes, hitziges Wesen, große Behendigkeit und körperliche Geschicklichkeit, auffallende Empfindlichkeit gegen Hitze und Kälte und Geneigtheit zu Brustkrankheiten, in gemüthlicher Hinsicht durch große Lebhaftigkeit und Reizbarkeit des Gefühls, heitern Sinn, Hang zu sinnlichen Vergnügungen, Veränderlichkeit der Gesinnung sowol in der Freundschaft als in der Liebe, Sorglosigkeit, Leichtsinn, in geistiger Hinsicht durch Scheu vor allen ernsten, gründlichen Studien, Mangel an ruhiger Überlegung, vorschnelles Urtheil aus. Dieses Temperament ist vorzugsweise dem weiblichen Geschlecht [386] und der Jugend eigen. – Das phlegmatische, kaltblütige oder lymphatische Temperament charakterisirt sich meist durch eine schwammige Körperbeschaffenheit, blasse Färbung und Weichheit der Haut, mattblaues, graues Auge, ruhigen Blick, schlaffes, gedunsenes Ansehen, Anlage zur Wohlbeleibtheit, Wohlbehagen an den Freuden der Tafel, Langsamkeit fast aller Verrichtungen, trägen Blutumlauf, langsames Athemholen, bedächtige Sprache und langsamen Gang. Das Gemüth des Phlegmatikers ist allen lebhaften Empfindungen unzugänglich, es kennt nur eine Liebe, die zur Ruhe, nur einen Haß, den der Anstrengung. Der Phlegmatiker ist keiner Begeisterung fähig, sie gelte nun der Natur oder Kunst oder gemeinnütziger Thätigkeit, faßt zwar langsam, hat aber einen kalten, ruhigen Verstand, übereilt sich darum nicht in Urtheilen, ist ein fleißiger Arbeiter, besonders in mechanischen Geschäften, zwingt Vieles durch Geduld und Ausdauer, ist aus Gewohnheit rechtlich und gewissenhaft und nur bei überwiegender Roheit gefühllos und grausam. – Das Temperament gibt dem ganzen Leben einen bestimmten Charakter und eine bestimmte Richtung. Ein Jeder empfindet, denkt und handelt in und nach seinem Temperament. So strebt der Choleriker im Gefühle seiner Kraft nach Thaten, der Melancholiker liebt stille Beschäftigungen, der Sanguiniker den Genuß, der Phlegmatiker ein bequemes, beschauliches Leben, ja man kann nach dieser vierfachen Temperamentsverschiedenheit die Menschen in vier Classen ordnen, in die geschäftige, sinnende, lustgierige und bequeme.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 386-387.
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