Tugend

[526] Tugend (aretê, virtus) ist sittliche Tauglichkeit, Tüchtigkeit in sittlicher Hinsicht, sittlicher Habitus, constante Richtung des Willens auf das Sittliche (s. d.), Gute, Pflichtgemäße, Sein-sollende. Je nach dem Inhalt des Sittlichkeitsbegriffs, je nach der Wertung von Eigenschaften und Gesinnungen ist der Tugendbegriff verschieden. Anders ist der »heidnische« – der auch, als virtù, der Tugendbegriff der italienischen Renaissance ist - , physische und geistige Tüchtigkeit, Energie aufs höchste wertende, anders der die Liebe, den Gehorsam, die Demut und Gottesfurcht zu höchst schätzende christliche Tugendbegriff, und wiederum unterscheiden sich individualistische und sociale Ethik in bezug auf den Tugendbegriff. Es lassen sich Individual-, sociale, humanitäre Tugenden unterscheiden, je nach der directen Richtung des sittlichen Verhaltens. Jene Tugenden, welche als Grundlage aller andern betrachtet (und auf höchste gewertet) werden, sind die Cardinaltugenden (s. d.).

PYTHAGORAS führt die Tugend auf Zahl (s. d.) und Harmonie zurück (Arist., Magn. moral. I 1, 1182 a 11. Diog. L. VIII, 33). In das Wissen um das Rechte, Sittliche setzt die Tugend SOKRATES. Die Tugend ist lehrbar. Wer das Gute (s. d.) wahrhaft weiß, tut es. niemand handelt wissentlich schlecht, d.h. gegen seinen Vorteil, seine Glückseligkeit: sophian de kai sôphrosynên ou diôrizen, alla tô ta men kala kai agatha gignôskonta chrêsthai autois kai tô ta aischra eidota eulabeisthai sophon te kai sôphrona ekrinen. Proserôtômenos de, ei tous epistamenous men ha dei prattein, poiountas de tanantia, sophous te kai enkrateis einai nomizoi. ouden ge mallon, ephê, ê asophous te kai akrateis. pantas gar oimai proairoumenous ek tôn endechomenôn ha oiontai symphorôtata autois einai, tauta prattein. Nomizô de kai tên dikaiosynên kai tên allên pasan aretên sophian einai (Xenoph., Memorab. III, 9, 4 squ.. vgl. IV, 6). Sôkratês ... phronêseis ôeto einai pasas tas aretas (Aristot., Eth. Nic. VI 13, 1144 b 18 squ.). Die Lehrbarkeit der Tugend wird[526] auch von den Cynikern betont (Diog. L. VI 9, 105). Die Tugend ist Ziel des Handelns (telos einai to kat' aretên zên (l. c. VI, 9, 104). Die Tugend ist ausreichend zur Glückseligkeit (autarkê de tên aretên pros eudaimonian, l. c. VI, 1, 11 squ.). Nach ARISTIPP ist die Tugend ein Mittel zur Lust (Cicer., De offic. III, 33, 116. vgl. Diog. L. II 8, 91). PHAEDON führt alle Tugenden auf eine zurück (Plut., De virt. mor. 2). PLATO bestimmt die Tugend als Tüchtigkeit der Seele zu dem ihr eigenen Werke. sie gliedert sich, je nach den Seelenteilen, in vier Cardinaltugenden (s. d.). Psychês esti ti ergon, ho allô tôn ontôn oud' an heni praxais; hoion to toionde. to epimeleisthai kai archein kai bouleuesthai kai ta toiauta panta, esth' hotô allô ê psychê dikaiôs an auta apodoimen kai phaimen idia ekeinês einai. Oudeni allô. Ti d' au to zên: psychês phêsomen ergon eina: Malista g', ephê. Oukoun kai aretên phamen tina psychês einai: Phamen. 'Ar oun pote ... psychê ta autês erga eu apergasetai steromenê tês oikeias aretês, ê adynaton: 'Adynaton. 'Anankê ara kakê psychê kakôs archein kai epimeleisthai, tê de agathê panta tauta eu prattein: 'Anankê. Oukoun aretên men synechôrêsamen psychês einai dikaiosynên, kakian de adikia: Synechôrêsamen gar (Republ. I, 353. vgl. Tim. 86 E). Nach ARISTOTELES ist die Tugend allgemein die (aus einer Anlage durch Übung entwickelte) Fertigkeit (hexis) zur vernunftgemäßen Tätigkeit (psychês energeia kata logon, Eth. Nic. II, 5. vgl. II 2, 1104 b 1 squ.. tas de aretas lambanomen energêsantes proteron, l. c. 1103 a 11. II 5, 1106 a 15 squ.). Die Tugenden sind ethische und dianoëtische Tugenden (êthikai, dianoêtikai. Eth. Nic. I 13, 1103 a 5). »Ethische« Tugend ist die constante Willensrichtung, welche die »richtige Mitte« einhält, das Maß in allem bewahrt (estin ara hê aretê hexis proairetikê, en mesotêti ousa tê pros hêmas, hôrismenê logô kai hôs an ho phronimos horiseie). Die mesotês ist die Mitte zwischen zwei Extremen (mesotês de dyo kakiôn, tês men kath' hyperbolên, tês de kat' elleipsin, l. c. II 6, 1107 a 1 squ.). Die Einsicht (phronêsis) ist hierbei wichtig (l. c. VI 13, 1144 a 8, X 8, 1178 a 16). Die ethischen Tugenden sind: Tapferkeit (andreia), Mäßigkeit (sôphrosynê), Freigebigkeit (eleutheriotês und megaloprepeia, megalopsychia, philotimia, praotês, alêtheia, eutrapeleia, philia, dikaiosynê, l. c. II, 7. vgl. III, IV. vgl. Gerechtigkeit). Die dianoëtischen Tugenden beziehen sich auf das richtige Verhalten der Vernunft als solcher im Erkennen, Schaffen und Handeln. Es sind: Vernunft, Wissenschaft, Weisheit, Kunst, Einsicht (l. c. VI squ.). Den höchsten Wert hat das theôrein (l. c. X, 7). Die Stoiker setzen die Tugend in das der Natur, d.h. zugleich der menschlichen Natur, der Vernunft, gemäße Leben (to kata logon zên orthôs ginesthai autois to kata physin, Diog. L. VII 1, 86. telos – to homologoumenôs tê physei zên, hoper esti kat' aretên zên. agei gar pros tautên hê physis). Wir sind ein Teil der Natur, sollen ihr und ihrem Gesetz (koinos nomos), der Allvernunft (orthos logos) gehorchen (merê gar eisin hai hêmeterai physeis tês tou holou. dioper telos ginetai to akolouthôs tê physei zên, hoper esti kata te tên hautou kai kata tên tôn holôn, ouden energountas hôn apagoreuein eiôthen ho nomos ho koinos, hosper ertin ho orthos logos dia pantôn erchomenos, l. c. VII, 1, 86). Die Tugend ist an sich, ohne weitere Motive (wie Furcht u.s.w.) zu wählen (autên di' hautên einai hairetên), in ihr beruht alles Glück (en autê t' einai eudaimonian). Wer eine Tugend hat, hat alle andern, eine ergibt sich aus der andern (tas aretas legousin antakolouthein allêlais kai ton mian echonta pasas echein, l. c. VII, 1, 125). Zwischen Tugend gibt es kein Mittleres (mêden metaxy einai aretês kai kakias, l. c. 127. vgl.[527] Cicer., Tusc. disp. V, 28, 82). Die Tugend ist eine diathesis, eine Eigenschaft ohne Grade (Diog. L. VII, 98. Simpl. in Arist. Cat. f. 61 b). Nach KLEANTHES ist die Tugend unverlierbar (anapoblêton), nach CHRYSIPPUS aber verlierbar (Diog. L. VII, 127). Nach CICERO ist die Tugend »nihil aliud, nisi perfecta et ad summum perducta natura« (De leg. I, 8), »perfecta ratio« (l. c. I, 16. vgl. Tusc. disp. III, 1, 2). Zwei Arten von »animi virtutes« gibt es: »unum earum, quae ingenerantur suapte natura... alterum earum, quae in voluntate positae magis proprio nomine appellari solent« (De fin. V, 13, 36). Nach SENECA ist die Tugend »recta ratio« (Ep. 66, 32). »Perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia consonans sibi« (l. c. 31). Nach EPIKUR ist die Haupttugend die phronêsis, die richtige Einsicht bei dem Streben nach Lust, welche alle Folgen abwägt (symmetrêsis) (Diog. L. X, 132). Tugend und Glückseligkeit (s. d.) gehören untrennbar zusammen (sympephykasin hai aretai tô zên hêdeôs, l. c. X, 132. achôriston phêsi tês hêdonês tên aretên monên, l. c. X, 138). Nach PLOTIN ist die Tugend ein vernünftiges Verhalten (epaiein logou) (Enn. III, 6, 2), eine katharsis (s. d.) der Seele (l. c. I, 6, 5 squ.), eine Verähnlichung (homoiôsis) mit Gott (theô homoiôthênai, l. c. I, 2, 1 squ.). Es gibt bürgerliche (politikai aretai), reinigende (katharseis), vergöttlichende Tugenden. Zu den ersteren gehören phronêsis, andria, sôphrosynê, dikaiosynê (l. c. I. 2 squ.). PORPHYR unterscheidet politikai, kathartikai, theôrêtikai, paradeigmatikai. ähnlich JAMBLICH.

Das Christentum setzt die Haupttugenden in Menschen- und Gottesliebe, Glaube, Demut. Nach CLEMENS ALEXANDRINUS ist die Tugend eine diathesis psychês symphônos hypo tou logou. AUGUSTINUS bestimmt: »Virtus est bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nemo male utitur, quam Deus operatur in nobis sine nobis« (De lib. arb. II, 18). Alles nach seinem wahren Werte zu schätzen, zu lieben ist Tugend. »Unde mihi videtur, quod definitio brevis et vera virtutis ordo est amoris« (De civ. Dei XV, 22). ALCUIN definiert: »Virtus est animi habitus, naturae decus, vitae ratio, morum pietas, cultus divinitatis, honor hominis, aeternae beatitudinis meritum« (De virt. et vitiis C. 35). Nach RICHARD VON ST. VICTOR ist die Tugend »animi affectus ordinatus et moderatus« (vgl. Stöckl I, 373). Nach ABAELARD ist sie »bona in habitum solidata voluntas« (Theol. Christ. II, p. 675, 699). Die Gesinnung (s. d.) macht die Tugend. Nach ALBERTUS MAGNUS gibt es »virtutes infusae et acquisitae, informes et formatae« (Sum. th. Il, 102, 3). Die »theologischen Tugenden« (»virtutes theologicae«) sind Glaube, Hoffnung, Liebe (l. c. II, 103). Nach THOMAS ist die Tugend »habitus, quo aliquis bene utitur« (Sum. th. II, 56, 3), »perfectio quaedam« (l. c. II. II, 144, 1 c), »bonitas quaedam« (Contr. gent. I, 92), »bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur« (l. c. II, 55, 4 ob. 1). Die Tugenden sind »perfectiones quaedam, quibus ratio ordinatur in Deum« (l. c. I, 95, 3). Es gibt intellectuelle (»intellectuales«), moralische (»morales«), theologische Tugenden (l. c. II, 58, 3). Alle »moralischen« (ethischen) Tugenden bestehen im Einhalten der richtigen Mitte (l. c. II, 64, 1). Es gibt Tugenden, welche »ex divino munere nobis infunduntur« (De virt. qu. 1, 9). Ohne unser Zutun, wenn auch nicht ohne unsere Zustimmung wird uns solche Tugend eingegeben: »Virtus infusa in nobis a Deo sine nobis agentibus, non tamen sine nobis conscientibus« (Sum. th. I, 55, 4). Nach DUNS SCOTUS ist die Tugend ein »habitus electivus« (In 1. sent. 3, d. 33, 1). Sie strebt nach jenem, »quae[528] sunt consona rationi rectae«. Die Tugenden sind »infusae« oder »acquisitae« (l. c. 3, d. 36, 1).

Nach LAURENTIUS VALLA ist die Tugend »voluntas sive amor boni, odium mali« (vgl. Ritter IX, 258). SUAREZ erklärt: »Virtus est bona qualitas perficiens naturam rationalem« (vgl. Stöckl III, 680). Es gibt intellectuelle und moralische Tugenden. Nach MELANCHTHON ist die Tugend die Neigung, der rechten Vernunft um Gottes Willen zu gehorchen (Epit. philos. moral. p. 24 ff.). – In das naturgemäße Leben setzt die Tugend JUSTUS LIPSIUS (Manud. ad Stoic. philos. II, 18 f.). Nach TELESIUS besteht die Tugend in dem maßvollen Handeln, in der Selbsterhaltung und (geistigen) Selbstvervollkommnung (De rer. nat. IX, 5 ff.). CAMPANELLA lehrt ähnlich. Die Tugend ist »regula passionum, notionum et affectionum animi et operationum ad certe acquirendum verum bonum et fugiendum verum malum« (Real. philos. p. 223).

In den Willen zum Vernunftgemäßen setzt die Tugend DESCARTES (vgl. De meth. 6. Ep. 38 u. ö.). Nach GASSENDI ist die Tugend »aut ipsa prudentia rationisve rectae dictamen, prout ipsi assuescimus« (Philos. Epic. synt. III, C. 7). Nach GEULINCX ist die Tugend einheitlich und eine: »Virtus una est atque unica« (Eth. II, prooem. p. 66). An die Stoiker erinnert das Folgende: »Virtus ergo individua nobis dicitur, quia una virtus sine alia esse non potest, sed necessario, ubi una est, ibi omnes, ubi una aliqua non est, ibi nulla« (l. c. II, 1, § 2, p. 69). Haupttugend ist die Demut (s. d.), die auf »inspectio et despectio sui« beruht (l. c. I, 2, 2, § 3 squ.). Nach SPINOZA besteht die Tugend in der Fähigkeit, das unserer Natur Gemäße, d.h. aber das Vernunftgemäße als das wahrhaft Nützliche zu tun. Tugend beruht auf (geistiger) Selbsterhaltung, Tugend ist Macht des Geistes, ist Glückseligkeit (s. d.). »Quo magis unusquisque suum utile quaerere, hoc est suum esse conservare conatur et potest, eo magis virtute praeditus est. et contra quatenus unusquisque suum utile, hoc est, suum esse conservare negligit, eatenus est impotens« (Eth. IV, prop. XX). »Virtus est ipsa humana potentia, quae sola hominis essentia definitur, hoc est, quae solo conatu, quo homo in suo esse perseverare conatur, definitur« (l. c. dem.). »Nulla virtus potest prior hac (nempe conatu sese conservandi) concipi« (l. c. prop. XXII). »Homo quatenus ad aliquid agendum determinatur ex eo, quod ideas habet inadaequatas, non potest absolute dici ex virtute agere. sed tantum quatenus determinatur ex eo, quod intelligit« (l. c. prop. XXIII). »Ex virtute absolute agere nihil aliud in nobis est, quam ex ductu rationis agere, vivere, suum esse conservare (haec tria idem significant) ex fundamento proprium utile quaerendi« (l. c. prop. XXIV). »Ex virtute absolute agere nihil aliud in nobis est, quam ex legibus propriae naturae agere. At nos eatenus tantummodo agimus, quatenus intelligimus« (l. c. dem.). Höchste Tugend ist die Erkenntnis Gottes, das Begreifen aller Dinge aus Gottes Wesen. »Summa mentis virtus est Deum cognoscere« (l. c. V, prop. XXVII, dem.). »Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus« (l. c. prop. XLII). Nach LEIBNIZ ist die Tugend »ein unwandelbarer Vorsatz des Gemüts und stete Erneuerung desselben, durch welchen wir zu demjenigen, so wir glauben gut zu sein, zu verrichten gleichsam getrieben werden« (Gerh. VII. 92). Die Tugend ist das Lobenswerte (Nouv. Ess. II, ch. 28, § 12). Die Tugenden führen zur Vollkommenheit (Theod. I B, § 181). Der Tugendhafte liebt Gott und tut alles, was mit dem vermutlichen Willen Gottes für übereinstimmend gehalten wird (Monadol. 90).

Nach H. MORE ist die Tugend eine »intellectualis vis« der Seele, wodurch[529] sie die Affecte des Körpers beherrscht und nach dem Guten strebt. Es gibt »virtutes primitivae« und »derivativae« (Enchir. Eth. I, 12). Nach LOCKE bezeichnen Tugend und Laster Handlungen, die durch ihre eigene Natur recht oder unrecht sind (Ess. II, ch. 28, § 10). Tugend ist überall das, was als preiswürdig gilt (l. c. § 11. vgl. Sittlichkeit). In das Wohlwollen setzen die Tugend R. CUMBERLAND (De leg. nat. 1 ff.) und HUTCHESON, welcher erklärt »animi virtutes praecipuas esse benevolos voluntatis motus« (Philos. moral. I, C. 3, p. 51). Nach SHAFTESBURY besteht die Tugend in dem Herstellen der Harmonie zwischen egoistischen und socialen Neigungen (Sens. commun. IV, 1. Inqu. I, 2, 3). Princip aller Tugend ist die Schönheit im Handeln und Leben (Sens. commun. IV, 3). CLARKE setzt die Tugend in die richtige, den natürlichen Verhältnissen und Eigenschaften der Dinge gemäße Behandlung derselben (A discourse concern. the unchangeable obligat. of natur. relig. 1708). Ahnlich lehrt WOLLASTON. Sittlichkeit und Wahrheit hängen zusammen: »No act of any being, to whom moral good and evil are imputable, that interferes with any true proposition, or denies any thing to be as it is, can be right« (The relig. of nat. sct. I, p. 13 ff.). Nach HUME ist Tugend eine geistige Tätigkeit oder Eigenschaft, welche in dem unbeteiligten Zuschauer Beifall erweckt, »whatever mental action or quality gives to a spectator the pleasing sentiment of approbation« (Enquir. conc. Mor. § 1 ff.). Nach FERGUSON ist die Tugend ein Zustand der Seele. »Die Bestandteile derselben sind Neigung, Gutes tun zu wollen. Geschicklichkeit, es tun zu können. Fleiß, diese Geschicklichkeit zu den besten Endzwecken mit Beharrlichkeit zu brauchen. Stärke, das Unternommene auch bei Schwierigkeiten und Gefahren durchzusetzen.« Die Cardinaltugenden sind: Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung, Mut (Grds. d. Moralphilos. S. 210 ff.). In der geistigen Vervollkommnung des menschlichen Wesens besteht alle Tugend. Nach PALEY ist Tugend der Trieb, den Menschen wohlzutun und Gott zu gehorchen (Princ. of moral and polit. philos. 1775). Nach J. BENTHAM beruht das Laster auf einem Irrtum in der Wertschätzung (Deontolog. I, 131).

Nach LA ROCHEFOUCAULD ist die Eigenliebe Hauptmotiv aller Handlungen. »Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés.« »Ce que nous prenons pour des vertus n'est souvent qu'un assemblage de diverses actions et de divers intérêts que la fortune ou notre industrie savent arranger« (Rèflex. 1 p. 15). Ahnlich LA BRUYÈRE. In das Streben nach Glückseligkeit setzt die Tugend HELVETIUS (De l'homme I, 13). HOLBACH bemerkt: »La vertu n'est que l'art de se rendre heureux soi-même de la félicité des autres« (Syst. de la nat. I, 15). Nach VOLTAIRE ist die Tugend das der Gesellschaft nützliche Verhalten (Dict. philos.). So auch nach VOLNEY (Ruin., Nat.-Ges. C. 4, S. 234). es gibt individuelle, häusliche, sociale Tugenden (l. c. S. 235).

In das dem Naturgesetz gemäße Verhalten und in das Streben nach Vervollkommnung setzt die Tugend CHR. WOLF. »Virtus est habitus actiones suas legi naturali conformiter dirigendi« (Philos. pract. I, § 321). »Virtus philosophica a nobis dicitur habitus conformandi actiones legi naturali ob intrinsecam earundem bonitatem ac malitiam« (l. c. § 338). »Virtus sibimet ipsi praemium est, seu ipsamet praemium in nos confert« (l. c. § 353). »Virtutes intellectuales dicuntur habitus intellectu recte utendi in rerum quarumcunque cognitione, verum scilicet a falso, certum ab incerto, probabile a minus probabili accurate discernendo« (Eth. I, § 142). Tugend ist eine »Fertigkeit..., sich,[530] und andere so vollkommen zu machen, als durch unsere Kräfte geschehen kann« (Vern. Ged. von d. Kr. d. m. Verst. S. 21). Nach CRUSIUS ist Tugend »die Übereinstimmung des moralischen Zustandes eines vernünftigen Geistes mit den Regeln der wesentlichen Vollkommenheit der Dinge« (Vernunftwahrh. § 477). Tugendhaft sein heißt »aus Gehorsam gegen Gott und Erkenntnis seiner Schuldigkeit« handeln (l. c. § 481). Nach DARIES ist sie die innere Stärke des Geistes, wodurch er mehr gegen die Ausübung des Guten als des Bösen geneigt ist (Sittenl. C. 3, 2, § 72). Nach PLATNER ist die Tugend das »Wollen des Guten« (Philos. Aphor. II, § 126 ff., 161 ff.). MENDELSSOHN bestimmt: »Die Tugend ist eine Fertigkeit zu guten, und, das Laster eine Fertigkeit zu bösen Handlungen« (Üb. d. Evid. S. 122).

Nach KANT ist Tugend »die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll« (Anthropol. I, §10a). »Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht, welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst constituiert« (WW. VII, 209. vgl. S. 183, 212). Die Tugend ist eine Fertigkeit des Willens. »Eine Mehrheit der Tugenden sich zu denken... ist nichts anderes, als sich verschiedene moralische Gegenstände denken, auf die der Wille aus dem einigen Princip der Tugend geleitet wird« (l. c. S. 210 ff.. Met. Anf. d. Tugendlehre 1797, S. 47 f., vgl. WW. IX, 506. vgl. Sittlichkeit, Rigorismus, Ethik). Nach SCHILLER ist die Tugend eine »Neigung der Pflicht«, ein freudiges Gehorchen gegenüber dem Sittengesetze (WW. XI, 240). Nach KRUG ist ethische Tugend »sittliche Vollkommenheit, wieferne sie sich durch gewissenhafte Pflichterfüllung bewährt. Gewissenhaft aber ist die Pflichterfüllung, wenn ihr aufrichtige und innige Achtung gegen das Gesetz zum Grunde liegt« (Handb. d. Philos. II, 280). Nach J. G. FICHTE besteht die Tugend »im Handeln für die Gemeine, wobei man sich selbst gänzlich vergesse« (Syst. d. Sittenl. S. 594). FR. SCHLEGEL setzt die Tugend in die Genialität. – Nach BIUNDE besteht die Tugend in einer »Festigkeit und Stärke des Willens« (Empir. Psychol. II, 491). Sie geht auf Realisation des höchsten Vernunftzweckes (l. c. S. 490. vgl. ELVENICH, Moralphilos. § 28 ff.). ESCHENMAYER erklärt: »Die Tugend ist der durch sich selbst potenzierte Wille oder das Gute im Guten« (Psychol. S. 384). Nach SCHLEIERMACHER ist die Tugend die »Kraft der Vernunft in der Natur« (Philos. Sittenlehre § 111). Sie ist die Sittlichkeit, welche dem einzelnen einwohnt (l. c. § 295), die Kraft, aus welcher die sittlichen Handlungen hervorgehen. Die vier Cardinaltugenden sind: Weisheit, als Gesinnung im Erkennen, Liebe, als Gesinnung im Darstellen, Besonnenheit, als Fertigkeit im Erkennen, Beharrlichkeit oder Tapferkeit, als Fertigkeit im Darstellen (l. c. § 296 ff.). CHR. KRAUSE erklärt: »Stetig und harmonisch in reinem, freien Willen zu leben, ist die Tugend des Geistes. Tugend ist Gesundheit und Blühen des ganzen geistigen Lebens« (Urb. d. Menschh.3, S. 52). Zu einem Tugendbund, zur Ausübung der Sittlichkeit, sollen sich die Menschen vereinigen (l. c. S. 171 ff.). Als sittliche Tüchtigkeit bestimmt die Tugend HEGEL. Sie ist nach K. ROSENKRANZ »die Tätigkeit für die Verwirklichung der Pflicht« (Syst. d. Wissensch. S. 461). »Der Begriff der Tugend unterscheidet sich nach der Differenz des Inhaltes, in welchem die Selbst- und Socialpflicht die Verwirklichung ihres Begriffes vollbringen. Dieser Inhalt ist die natürliche Individualität als das Organ[531] des Geistes, die Intelligenz und der Wille selbst. Die Tugend ist demnach 1) die physische, 2) die intellectuelle und 3) die praktische«. »Laster nennen wir die habituell gewordene, mit Bewußtsein gepflegte Untugend« (l. c. S. 462 f.). Die Tugend ist »nichts Ruhendes, sondern in ihrer Existenz wesentlich Proceß. Ihr Werden ist jedoch nicht, wie das der Natur, ein von selbst erfolgendes, sondern durch die Kraft der Selbstbestimmung vermitteltes« (Begriff der »Askese«. 1. e. S. 463. »moralische Technik«: S. 464). Nach MARHEINEKE ist Tugend »wesentliches Verhalten zu und nach dem Gesetz« (Syst. d. theol. Moral 1847, S. 182). G. BIEDERMANN erklärt: »Pflicht... nicht bloß aus Pflicht, sondern aus freiem Willen tun, heißt Tugendhaftigkeit« (Philos. als Begriffswissensch. I, 324). Nach HERBART kommt in der Tugend zur Gesamtheit der praktischen Ideen (ß. d.) die Einheit der Person hinzu. Tugend ist »die in einer Person zur beharrlichen Wirklichkeit gediehene Idee der innern Freiheit« (Umr. pädagog. Vorles. I, C. 1, § 8). »Das Ideal der Tugend beruht auf der Einheit der Person, welche von der Beurteilung nach allen praktischen Ideen zugleich getroffen wird, während sie durch den mannigfaltigen Wechsel des Tuns und Leidens hindurchgehen muß« (Lehrb. zur Einl.5, S. 157). Nach BENEKE ist die Tugend »die mit der moralischen Norm (der allgemeingültigen Verschätzung) einstimmige Ausbildung des innern Seelenseins« (Sittenl. I, 381). Die allgemeinste Tugend ist die objectiv-wahre, allgemeingültige Wertschätzung (l. c. S. 391). Nach SCHOPENHAUER ist Tugend »durch Erkenntnis des innern Wesens des Willens in seiner Erscheinung, der Welt, motivierte Wendung, Hemmung des an sich heftigen Willens« (Neue Paralipom. § 121). Erste Cardinaltugend ist die Gerechtigkeit (Grundl. d. Moral, § 18). – Nach TRENDELENBURG sind Tugenden »Tätigkeiten, welche die einzelnen im Sinne der sittlichen Idee Üben« (Naturrecht, S. 67). Nach ÜBERWEG ist die Tugend »die der sittlichen Aufgabe gemäße Gesinnung oder die sittliche Tüchtigkeit des Willens« (Welt u. Lebensansch. S. 437).

Nach E. LAAS sind Tugenden Charaktereigenschaften im Sinne des social Nützlichen (Ideal. u. Posit. II, 270 ff.). So auch GIZYCKY (Moralphilos. S. 5 ff.). Tugend ist »eine Geneigtheit, pflichtmäßig zu handeln« (l. c. S. 154), »Trefflichkeit des Willens« (l. c. S. 161 ff.). Nach LIPPS ist Tugend »Tüchtigkeit, innere Lebenskraft« (Eth. Grundfr. S. 133). Nach PAULSEN sind Tugenden »habituelle Willensrichtungen und Verhaltungsweisen, welche die Wohlfahrt des Eigenlebens und des Gesamtlebens zu fördern tendieren« (Syst. d. Eth. II5, 3). Laster sind »abnorm entwickelte, im Sinne der Zerstörung des Eigenlebens und der Umgebung wirkende Willenskräfte« (l. c. S. 6). Es gibt individualistische und sociale Tugenden (l. c. S. 9). Nach TÖNNIES besteht die Tugend in dauernden Eigenschaften des Wesenswillens als Vorzügen. Allgemeine Tugend ist Energie, Tatkraft (Gem. u. Gef. S. 120. vgl. damit den Tugendbegriff NIETZSCHES, der als tugendhaft den auf Erhöhung der »Macht«, des Lebenswillens, der Kraft gerichteten Willen wertet. s. Ethik, Sittlichkeit, Wert). Nach P. NATORP existiert eine sittliche Welt nur für eine Gemeinschaftlichkeit der Willen, aber das Wollen des Guten bleibt individuell (Socialpäd. S. 83 f.). Tugend ist »die Sittlichkeit des Individuums«. Die Tugenden sind deren einzelne Seiten, Richtungen, Cardinaltugenden aber »die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten« (l. c. S. 86). Tugend ist »die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemäße Beschaffenheit menschlicher Tätigkeit« (ib.). Alle Unsittlichkeit läuft auf einen Selbstwiderspruch des Willens hinaus (l. c. S. 114). Individuelle Tugenden: 1) Tugend[532] der Vernunft = Wahrheit. 2) Tugend des Willens = Tapferkeit oder sittliche Tatkraft. 3) Tugend des Trieblebens = Reinheit oder Maß (l. c. S. 91 ff.). 4) Gerechtigkeit (l. c. S. 118 ff.). Die sociale Tugend besteht im normalen Verhältnis der drei Grundfactoren der wirtschaftlichen, regierenden, bildenden Tätigkeit (l. c. S. 160 ff., 178 ff.). Nach WUNDT ist Tugend die Ausübung der Pflicht als bleibende Eigenschaft (Eth.2, S. 555). Nach C. STANGE ist Tugend ein einfaches Wertprädicat, kein Normbegriff. es bezeichnet »eine bestimmte Beschaffenheit, auf welche das ethische Wertprädicat angewendet wird und in welcher die sittliche Norm ihre Verwirklichung findet«. Das tugendhafte Handeln ist »daß zur Gewöhnung gewordene pflichtmäßige Handeln« (Einl. in d. Eth. II, 35 ff.). Nach H. CORNELIUS ist es unsere Pflicht, »unser Wollen durch die Vernunft leiten zu lassen oder uns consequent zu verhalten« (Einl. in d. Philos. S. 348). P. RÉE bemerkt: »Eine Gesinnung ist tugendhaft, bedeutet: sie ist löblich, soll gehegt werden. Jede Culturstufe prägt zu Tugenden die Gesinnungen, deren sie bedarf« (Philos. S. 53). Vgl. Pflicht, Sittlichkeit.

Tugendbund s. Tugend (CHR. KRAUSE).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 526-533.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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