Philosophie

[435] Philosophie (gr. philosophia von philos = Freund und sophia = Weisheit), eigtl. Liebe zur Weisheit, heißt diejenige Wissenschaft, welche die Grundlagen aller Wissenschaften zu untersuchen, ihre Ergebnisse in Einklang zu setzen und so das Wissen zu einem Gesamtweltbilde zusammenzufassen hat. Die Philosophie ist Wissenschaft des Ganzen. Alle Einzelwissenschaften haben es mit besonderen Gebieten des Wissens von der Natur oder von der Geschichte zu tun; die Philosophie allein untersucht das Wissen überhaupt, seine Prinzipien und Methoden. Jene arbeiten isoliert für sich, sie brauchen aufeinander nicht überall Rücksicht zu nehmen; die Philosophie stellt dagegen den Zusammenhang zwischen ihnen her; sie ist ihr geistiges Band. Die Philosophie setzt andrerseits die verschiedenen Wissenschaften voraus; diese müssen ihr die Resultate ihrer Einzelforschung darbieten,[435] damit sie selbst bei Aufstellung der Weltanschauung nicht in leere Phantasmen gerate. – Die Philosophie ist griechischen Ursprungs. Ihr Name findet sich nicht bei Homer und Hesiod, sondern erst bei Herakleitos (philosophousandras), dann bei Herodot (I, 30: Xeine 'Athênaie, par' hêmeas gar peri seo logos apikto pollos kai sophiês heineken tês sês kai planês, hôs philosopheôn gên pollên theôriês heineken hypelêlythas) und bei Thucydides II, 40 (philokaloumen gar met' euteleias kai philosophoumen aneu malakias). Nach Cic. Tusc. V, 3, 8 und Diog. Laert. Prooem. § 12 soll Pythagoras (ca. 500 v. Chr.) sich zuerst einen Philosophen genannt haben. Für Sokrates (469 bis 399) war die Philosophie begriffliches Wissen. Platon (427 bis 347), der zuerst ein philosophisches Lehrgebäude schuf, nennt die Philosophie die Wissenschaft der Ideen, die Kunst, die Seele von der Sinnlichkeit zu befreien, oder auch die Kunst, sterben zu lernen. Für Aristoteles (384-322) ist sie die Wissenschaft überhaupt, oder im engeren Sinne Forschung nach den höchsten Prinzipien (epistêmê tôn prôtôn archôn kai aitiôn theôrêtikê. Met. I, 2, p. 982 b 9). Während die Stoiker die Philosophie als das Streben nach Tugend ansahen, bezeichneten sie die Epikureer als das rationelle Streben nach Glückseligkeit. Die Scholastik des Mittelalters erniedrigte die Philosophie zur ancilla theologiae. Chr. Wolf (1679-1754) bezeichnete sie als Wissenschaft von dem Möglichen, wiefern es sein kann. Kant (1724-1804) erklärt sie für die Wissenschaft von den Vernunftprinzipien der Erkenntnis oder für die reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen (andrerseits auch als Lehre vom höchsten Gut. Vgl. Primat.). Fichte (1762-1814), Schelling (1776-1854) und Hegel (1770-1831) definieren sie als die Wissenschaft vom Absoluten, Herbart (1776-1841) als die Wissenschaft von der Bearbeitung der Begriffe, Schopenhauer (1788-1860) als die vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen.

Zur Philosophie gehören anerkanntermaßen folgende Gebiete: 1. als Grundlage aller Philosophie die Erkenntnistheorie, welche die Grenzen und die Tragweite des gesamten Wissens zu untersuchen hat, 2. die Metaphysik, die es mit den letzten Gründen alles Seins, mit dem, was über der Natur und hinter der Erscheinungswelt liegt, zu tun hat, 3. die Naturphilosophie, die sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt, 4. die Psychologie, die Lehre von den[436] Bewußtseinsvorgängen, 5. die Logik, die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, 6. die Ethik, die Wissenschaft vom Sittlich-Guten und –Bösen, 7. die Ästhetik, die Lehre von den Empfindungen, die durch das Schöne und das ihm Verwandte oder Entgegengesetzte hervorgerufen werden. An die Ethik und Psychologie schließt sich die Pädagogik oder Erziehungslehre, die Soziologie und Politik oder die Gesellschafts – und Staatslehre, und die Rechtslehre, an die Metaphysik die Religionsphilosophie an. – Platon teilte die Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik, Aristoteles in theoretische und praktische Philosophie. Chr. Wolf (1679-1754) schickte die Ontologie voran; dann ließ er die reine Philosophie ( Kosmologie, Psychologie, Theologie) und die praktische ( Logik und Erfindungskunst, Ethik, Politik und Ökonomik) folgen. Kant (1724-1804) teilt die Philosophie in Transscendentalphilosophie und Metaphysik, die Metaphysik in Metaphysik der Natur und der Sitten. Herbart (1776-1841) unterschied Logik, Metaphysik (reine und angewandte, d.h. Psychologie und Naturphilosophie) und Ästhetik (d.h. Ethik, Rechtsphilosophie, Pädagogik und Soziologie). Hegel (1770-1831) teilte die Philosophie ein in: Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie. Endlich Schleiermach er (1768-1834) unterscheidet empirische und spekulative Philosophie; jene schildert, was ist: Natur- und Geschichtskunde; diese, was sein soll: Psychologie und Ethik.

Über die Geschichte der Philosophie s. o. S. 233.

Gegen die Philosophie sind oft von verschiedenen Seiten mancherlei Beschuldigungen erhoben worden: Während Platon sie eine königliche Kunst (basilikê technê, Euthydemos 18, 291 B) genannt hat, sagt A. v. Humboldt, sie sei die Kunst, einfache Begriffe in schwerfälliger Weise wiederzugeben, und Goethe behauptet: »Genau besehen ist alle Philosophie nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache«. (Sprüche in Prosa 635). Aber der gesunde Menschenverstand reicht keineswegs aus zur Erforschung der letzten Wahrheiten, und einfach sind die Grundbegriffe der Philosophie gewiß nicht. Oft wirft man ihr Penelopearbeit vor, weil ein System das andere auflöst; aber es ist andrerseits ein Fortschritt in den Systemen erkennbar, und was der eine Philosoph als ganze Philosophie ansah, findet oft seinen angemessenen Platz als [437] Teil und Baustein in späteren Systemen. Der Philosophie wird oft Feindschaft gegen die Religion vorgeworfen. Aber schon Bacon (1561 – 1626) sagte richtig: die Philosophie, oberflächlich betrieben, führt von Gott ab, tiefer behandelt, zu ihm hin. Religion ohne Philosophie bleibt stets oberflächlich und schwankend, und es ist ein großer Mangel des Protestantismus, daß er es bisher nicht zu fester Verbindung mit der Philosophie gebracht hat. Der Philosophie wird ferner Untergrabung der Achtung vor der Autorität zur Last gelegt (Sophisten, Freidenker, Encyklopädisten, Rationalisten und Naturalisten); aber die Irrwege der Philosophie sind nicht die Philosophie selber und die Autorität, die nicht vor vernünftiger Aufklärung bestehen kann, ist nichtig. Endlich werfen ihr die Anhänger der exakten Forschung vor, sie sei überhaupt keine Wissenschaft, da sie sich nicht auf feste Formeln bringen lasse; aber sie fassen die Aufgabe der Wissenschaft zu eng. Die Philosophie ist zwar kein abgeschlossener Bau, sondern wandelt sich mit den Fortschritten der Wissenschaften und des Lebens; aber was ihr an Fertigkeit abgeht, besitzt sie an Lebensfrische.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 435-438.
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