Fuge [2]

[193] Fuge (lat. Fuga, franz. u. engl. Fugue), die durchgebildetste Kunstform des polyphonen Stils, in der alle Stimmen gleichberechtigt und gleich bedacht sind. Der Name F. stammt vom lateinischen fugaFlucht«), weil das die verschiedenen Stimmen durchlaufende Thema bald hier, bald dort die Aufmerksamkeit auf sich zieht und so gleichsam immer wieder entflieht. Im 16. Jahrh. ist Fuga neben Consequenza der Name für fortgesetzt streng imitierende, heutigestags Kanon genannte Sätze. Die Vorläufer der wirklichen F. im 16. Jahrh. (von Buus, Willaert, Merulo, Gabrieli u. a.) heißen Ricercar oder Fantasia, in Spanien Tiento; doch halten dieselben mit wenigen Ausnahmen noch nicht ein Thema fest, sondern bringen nach Motettenart in jeder Durchführung ein neues Motiv. Erst ganz allmählich bildet sich die Forderung thematischer Einheitlichkeit der F. im 17. Jahrh. heraus, und zwar in den imitierenden Teilen der italienischen Kanzonen und Sonaten für mehrere Instrumente (Kammer- und Orchestermusik) und in den Orgelkompositionen besonders der deutschen Organisten, deren Kunst über den Niederländer Sweelinck auf Zarlino und durch Froberger auf Frescobaldi, also die italischen Meister zurückweist. Ihre höchste künstlerische Ausbildung erhielt die F. durch J. S. Bach (instrumental) und Händel (vokal). Die wesentlichsten Teile und termini technici der F. sind: das Thema (Führer, Dux, Subjekt, Guida, Proposta), von der beginnenden Stimme (die jede der beteiligten sein kann) zuerst allein vorgetragen, worauf eine zweite mit der Antwort (Gefährte, Comes, Risposta, Conseguente) der Transposition des Themas in die Quinte einsetzt, während die erste dagegen einen Kontrapunkt ausführt (Gegensatz, Kontrasubjekt). Ist die F. mehr als zweistimmig (eine zweistimmige F. ist kaum als eine rechte F. anzusehen), so bringt die dritte Stimme wieder den Führer, die vierte den Gefährten etc. Das einmalige Durchlaufen des Themas durch die Stimmen heißt eine Durchführung (Widerschlag, Repercussio, engl. Development). Je größer die Zahl der Stimmen der F. ist, desto größer kann die der Durchführungen sein, weil die Folge der Stimmeneinsätze desto mehr Permutationen gestattet. Selbstverständlich kann aber die einzelne F. nur einen kleinen Teil dieser Möglichkeiten ausnutzen. Die Vielgestaltigkeit der F. trotz des scheinbaren Schematismus ist hieraus klar ersichtlich. Die Transposition des Führers in die Quinte unterliegt gewissen Einschränkungen durch die Forderungen der tonalen Logik, die sich erst ganz allmählich festgestellt haben. Moduliert der Dur zur Dominanttonart, so muß der Comes zur Haupttonart zurückführen; moduliert der Dux nicht, so muß der Comes zur Dominante modulieren. Dadurch entstehen Veränderungen einzelner Intervalle des Comes gegenüber dem Dux. Die Form der F. im[193] großen folgt dem allgemeinen Prinzip aller musikalischen Formgebung, daß ein erster Teil die Haupttonart (nebst der Dominante) wahrt, ein zweiter mittlerer sich zu andern verwandten Tonarten wendet und gegen Ende mit markierter Berührung der Subdominanttonart die Haupttonart sich wieder festsetzt. Jeder dieser Teile kann mehrere Durchführungen umfassen, besonders bringt der erste außer der allmählichen Ansammlung der Stimmen (der sogen. Exposition) gern eine zweite mit dem Comes beginnende. Zwischen die einzelnen Durchführungen treten gewöhnlich leichter gearbeitete kurze Zwischenspiele (Zwischensätze, Episoden, Divertimenti, Andamenti), die dem Wiedereintritt des Themas als Folie dienen. Besondere Steigerungen der Künstlichkeit der Fugenarbeit sind die Beantwortung des Themas in der Umkehrung, Verkürzung oder Verlängerung sowie sogen. Engführungen, d. h. das kanonische teilweise Zusammenauftreten des Themas in seinen verschiedenen Gestalten in mehreren Stimmen. Die F. ist recht eigentlich der Tummelplatz aller kontrapunktischen Künste, kommt aber für gewöhnlich mit dem doppelten Kontrapunkt in der Oktave aus. Erstes Erfordernis einer guten F. ist ein Thema von prägnanter Physiognomie, das sich gegen alle Kontrapunkte leicht kenntlich abhebt. Wird das Kontrasubjekt mit seiner Beantwortung durch die ganze F. als Gesellschafter des Themas und der Antwort festgehalten, so ist die F. eine strenge (obligate). Die sogen. Doppelfuge ist eine F. mit zwei Themen, von denen erst das eine und dann das andre regulär durchgeführt wird, das zweite aber sich in einer dritten Durchführung als Kontrapunkt des ersten erweist. Über die Choralfuge s. Choralbearbeitung. Ausführlichere Darstellungen der Fugenlehre sind: Marpurg, Abhandlung von der F.; Abt Vogler, System für den Fugenbau; Fétis, Traité de la fugue; M. Hauptmann, Erläuterungen zu J. S. Bachs Kunst der F. (2. Aufl., Leipz. 1861) und desselben Aufsätze »Über die Beantwortung des Fugenthemas« (in den Wiener »Rezensionen«, 1865); E. F. Richter, Lehrbuch der F. (6. Aufl., Leipz. 1896); S. Jadassohn, Die Lehre vom Kanon und von der F. (2. Aufl., das. 1898) und Erläuterungen der in J. S. Bachs Kunst der F. enthaltenen Fugen und Kanons (das. 1899); A. W. Marchant, 500 Fugal subjects and amours (Lond.); E. Prout, Fugue (das. 1891) und Fugal Analysis (das. 1892); H. Riemann, Katechismus der Fugenkomposition (Leipz. 1890–93, 3 Tle.) und Große Kompositionslehre, 2. Teil: Der polyphone Tonsatz (Berl. 1903); F. Dräseke, Der gebundene Stil. Lehrbuch für Kontrapunkt und F. (Hannov. 1902, 2 Tle.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 193-194.
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