Mythologie

[616] Mythologie (v. gr.), ist die Wissenschaft von dem Mythus bei den alten heidnischen Völkern, u. da man unter Mythos (eigentlich Rede, Erzählung, dann eine Erzählung aus vorhistorischer Zeit) eine Erzählung, welche sich um ein göttliches Wesen dreht, od. innerlich betrachtet einen in concreter Erzählungsform auftretenden Glaubenssatz einer heidnischen Religion versteht, so ist M. entweder die Zusammenfassung der einzelnen Mythen od. die Dogmatik einer heidnischen Religion. Diese Mythen unterscheiden sich in Bezug auf ihren Inhalt als solche, welche Götter, u. solche, welche göttliche Menschen, Heroen, zum Gegenstande haben. Die erstere Art nennt man Mythus im engern Sinne, die zweite Sage. In Beiden ist das Geschichtliche mit Phantasiereichem, das Reale mit Idealem verschmolzen; aber während der Mythus, bes. als kosmogonischer u. theogonischer, ohne allen historischen Untergrund doch meist in dem Gewand der Geschichte Ideen aus dem Bereiche der physischen u. moralischen Welt, Gedanken über das Wesen u.[616] die Macht der Götter, über das Verhältniß der Götter unter einander u. der Götter zu den Menschen en thält, so baut sich die Sage meist auf geschichtlichem Grunde auf (wie Abstammung u. Thaten der Heroen, Heereszüge, Wanderungen, Städtegründungen etc.), der aber vielfach mit Gedachtem vermischt u. von der Phantasie umgebildet ist (wie das Einwirken der Götter auf die menschlichen Schicksale, die Idee des Rechts u. der Sitte etc.). Die Mythen sind in der Urzeit der Völker entstanden, hervorgegangen bes. aus ihrer Naturreligion, welche die, von einem über ihnen stehenden göttlichen Willen bedingten Naturkräfte in sittliche Persönlichkeiten umsetzt u. als solche in menschlicher Weise handeln läßt; sie sind entstanden nicht als das Product einzelner im Volke hervorragender Persönlichkeiten, sondern als das Product der phantasiereichen Anschauung des Volks in seiner Gesammtheit, von Jahrhundert zu Jahrhundert durch mündliche Tradition fortgepflanzt, durch die Berührung verschiedener Stämme u. die Aufeinanderfolge verschiedner Culte erweitert u. umgebildet u. allmälig als Wahrheit anerkannt u. geglaubt. Diese freie Art der Mythenbildung tritt bei den Orientalen in ihrer priesterlichen Bevormundung natürlich am wenigsten hervor, u. nur ihre Priester haben eigne mythologische Systeme aufgebaut; auch ließ das dumpfe Gefühlsleben u. die ausschweifende Phantasie der orientalischen Völker die Mythen in ihren Religionen zu keiner klaren Gestaltung kommen. Dagegen haben die Griechen in ihrer freien volksthümlichen Entwickelung u. ihren reichen Naturanlagen eine, durch tiefe Sinnigkeit u. poetische Schönheit ausgezeichnete M. geschaffen, während die Völker Italiens durch eigene gegenseitige Unterdrückung u. durch die Einwirkung bes. der gebildeten Griechen in ihrer nationalen Entwickelung gehemmt, bei ihrem mehr praktischen Sinn ihre M. wenig ausgebildet u. ihre Hauptaufmerksamkeit auf das Ceremoniell gerichtet haben. Homer u. Hesiodos haben den griechischen Mythus in geschlossener Gestaltung dargestellt; denn während der Erstere den auf ihn gekommenen reichen mythischen Stoff den Bedürfnissen seiner Zeit angemessen umbildete u. die aus der Natur entlehnten Götterwesen als bestimmte Persönlichkeiten hinstellte, brachte er eine Einheit in den bisher geschiedenen mythischen Stoff u. somit auch in das religiöse Bewußtsein der Nation, welche für die folgenden Jahrhunderte maßgebend u. dauernd war, u. gilt als Repräsentant der Heroischen M. Und Hesiodos, welcher die Entstehung der Götter aus der Natur u. ihre aufsteigende Genealogie nachweist, vertritt so die Kosmogonische u. Theogonische M. Die Kyklischen Dichter sammelten u. gruppirten die vorhandenen Mythen; die Lyriker u. Tragiker bildeten sie nach den Forderungen der Zeit u. nach ihren eigenen Bedürfnissen um, aber zweifelten noch keineswegs an dem Factischen des Mythus; erst Euripides gehörte der Zeit der religiösen Aufklärung an u. verfiel in ein unentschiedenes Philosophiren. Die alexandrinischen u. römischen Dichter behandeln meist unbekannte, locale Mythen. Unter den prosaischen Schriftstellern sammelten die Logographen (Hekatäos) u. ältere Geschichtsschreiber, wie vorher die Kyklischen Dichter, den mythologischen Stoff aus den Localmythen u. den Dichtern; an sie schließen sich später die Mythographen (Apollodoros u. Hyginus), die Commentatoren der Dichter u. die Periegeten (Pausanias). Das Bestreben, die Mythen zur Geschichte zu machen (Pragmatismus), welches sich schon bei einigen Logographen vorfindet, kam bes. durch die Geschichtsschreiber Ephoros, Euhemeros u. Diodoros Sikulos auf; von den Versuchen, dieselbe allegorisch-historisch zu erklären, haben wir noch in Palaphalos (s.d.) ein Beispiel. Die Philosophie des ganzen Alterthums u. bes. die des untergehenden Heidenthums erklärte die Mythen theils allegorisch (bes. Neuplatoniker u. Gnostiker), theils sah sie in ihnen nur Unwahrheit (Skepticismus).

Die Sammlung, Deutung u. Systematisirung der Mythen ist die Aufgabe der Wissenschaftlichen M. Die Mythensammlungen, zu denen schon die Werke des Apollodoros u. Hyginus gehören, müssen vollständig u. aus den Quellen geschöpft sein; dahin gehören: Schwenck, M. der Griechen, Frankf. 1843; Jacobi, Mythologisches Wörterbuch, Lpz. 1847. Die Mythenforschung muß das in der Bildung der Mythen Vereinigte auflösen, damit sie nicht nur den Kern des Mythus, sondern auch die verschiedenen Abstufungen u. Phasen, durch welche ein göttliches Wesen zu seiner Bedeutung gelangt ist, nachweisen kann. Bei der Mythendeutung treten verschiedene Principien hervor, je nachdem man dem Mythus einen pragmatisch-historischen Inhalt (wonach alle mythischen Personen einst wirklich menschliche Personen waren, deren Geschichte poetisch ausgeschmückt wurde), od. einen symbolischen (wonach unter der mythischen Hülle einzelne Zweige des menschlichen Wissens, wie Ethik, Politik, Alchemie, Astronomie, verborgen liegen sollen), od. einen rein physischen od. ethischen Inhalt zuschrieb. Aber keins der genannten Principien, von dem historischen u. symbolischen zu schweigen, kann ausschließlich u. allein richtig sein, weil es keinen allein physischen u. allein ethischen Mythencomplex geben kann. Zu Anfang des 19. Jahrh. machte sich längere Zeit die Ansicht geltend, daß die Mythen von einem Urvolke im Orient, welches reinere Gotteserkenntniß gehabt habe, ausgangen seien, u. zwar sei, während sich in den Mysterien die reine Lehre in abstracter Form fortgepflanzt habe, diese den uncultivirten Völkern, unter ihnen auch den Griechen, absichtlich in concreten Darstellungen auf allegorischer Weise überliefert worden. Vertreter dieser Ansicht waren Fr. Schlegel, Görres, Schelling, Creuzer. Da indeß jeder Mythus ursprünglich auf Naturanschauung beruht u. local ist, so ist eine Überlieferung aus dem Orient in der Urzeit nicht möglich. Diesen volksthümlichen Ursprung u. Entwickelungsgang des Mythus brachten unter Anwendung von Kritik u. Geschichte zur Geltung u. drangen somit tiefer in das Wesen des Mythus ein: Voß, Lobeck, Gottfr. Hermann, Buttmann, Welcker, K. O. Müller, Preller. Der Mythendeutung geben Anhaltepunkte die Mythen selbst, die Namen der mythischen Persönlichkeiten, deren Beinamen, Abstammung, der Cultus u. die Cultusformen u. die Vergleichung mit andern verwandten Mythen. Die Systematisirung stellt die aus den Mythen abgeleiteten Religionssysteme auf. Nach manchen älteren schwachen Versuchen beginnt die wissenschaftliche M. erst mit Heyne u. Voß (Mythologische Briefe, Königsb. 1792; Antisymbolik, Stuttg. 1824 ff., 2 Bde.); außer ihnen sind die bedeutendsten Mythologen: Creuzer, Symbolik u. M. der alten Völker, Lpz. 1810 ff., 4 Bde.,[617] 3. Aufl. Lpz. u. Darmst. 1837–44, 4 Bde. (franz. von Guigniaut, Par. 1825 f.); Welcker, Anhang zu Schwencks etymologisch-mythologischen Andeutungen, Elberf. 1823, u. einzelne Abhandlungen; K. O. Müller, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen M., Gött. 1825; Baur, Symbolik u. M. der Naturreligion des Alterthums, Stuttg. 1824 f., 3 Bde.; Buttmann, Mythologus, Berl. 1828 f., 2 Bde.; Stuhr, Allgemeine Religionsgeschichte der heidnischen Völker, ebd. 1836 f., 2 Bde.; Schweigger, Einleitung in die M. aus dem Standpunkt der Naturwissenschaften, Halle 1836; Preller, Demeter u. Persephone, ein Cyklus mythologischer Untersuchungen, Hamb. 1837; Griechische M, Lpz. 1854, 2 Bde.; Heffter, Die Religion der Griechen u. Römer nach historischen u. philosophischen Grundsätzen, n.A. Brandenb. 1848; Eckermann, Lehrbuch der Religionsgeschichte u. M. der vorzüglichsten Völker des Alterthums, Halle 1845 ff., 4 Bde., 2. A. ebd. 1848 ff.; Vollmer, Wörterbuch der M. aller Völker, 2. Aufl. Stuttg. 1850 ff.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 616-618.
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