Baumkultus

[480] Baumkultus, die bei den meisten Völkern hergebrachte religiöse Verehrung besonders großer und alter Bäume, bestimmter Baumarten oder des Waldes im allgemeinen, beruht wohl auf der Vorstellung, daß der hochstrebende und langlebige Baum vor andern Gewächsen als ein beseeltes Wesen, als ein Hort des in Dryadengestalt verkörperten Lebens der Natur, ja als ein Symbol der Unsterblichkeit aufzufassen sei. Dem »Baum des Lebens« begegnen wir bereits auf den ältesten assyrischen, persischen und ägyptischen Bildwerken, und ihm stellen sich ähnliche Ideenverkörperungen in der Weltesche Ygdrasill, in dem indischen Baum Kummerlos (Açoka), in dem persisch-jüdischen Baum der Erkenntnis etc. an die Seite. Als vorzüglich anbetungswürdige Verkörperungen der schaffenden Naturkraft erschienen den Indern die beiden heiligen Feigenbäume, von denen der Brahmaismus Ficus indica, mit ihrem aus Luftwurzeln gebildeten Säulenwalde, der Buddhismus Ficus religiosa, mit einfachem Stamm, bevorzugt hat, so daß man an der Baumumgebung einer indischen Pagode oder eines Klosters sofort das Bekenntnis erkennen kann. Im alten Persien, Rom, Griechenland und Germanien, aber auch in überseeischen Ländern finden sich Mythen von der Entstehung des ersten Menschenpaars aus Bäumen (Ask und Embla), und der Araber nennt die Dattelpalme den mit ihm zugleich erschaffenen »Bruder des Menschen«. Griechen und Römer pflanzten dem Schutzgeist oder Genius des Neugebornen einen Baum (meist eine Platane), widmeten diesem einen Altar und persönlichen Kultus, begossen ihn mit Wein und umkränzten ihn mit Binden. Morgen- und abendländische Sagen berichten von einer Verwandlung von Menschen in Bäume und dem Fortleben insbes. gewaltsam umgekommener Personen in solchen. So lebt Osiris im Erikabaum, der seinen Sarg umschloß, Soma in der heiligen Somapflanze, Daphne im Lorbeer, Cypressus in der Zypresse, die Schwestern des Phaethon in den weinenden Bernsteinbäumen etc. Besonders nutzbare Bäume wurden als persönliche Gaben und Geschenke bestimmter Gottheiten betrachtet und verehrt, so der Ölbaum der Minerva, die Strandkiefer des Poseidon, der Weinstock des Bakchos, die Eiche des Donar, Perkunas und Zeus etc. In der Auswahl war offenbar eine irgendwie begründete Symbolik maßgebend gewesen; so wurde die Fichte dem Poseidon heilig, weil sie Schiffsholz und Masten hergibt, der Feigenbaum dem Pan und Priap, weil er üppig wächst und reich an Milchsaft ist, der Hartriegel dem Ares, weil man von ihm Speerholz gewann, die Ciche dem Donnergott, weil der Blitz sie häufiger trifft, der Lorbeer dem Apollon, weil sein Laub zum Kranz des Ruhmes diente. Die Tempel wurden mit den entsprechenden Baumarten umpflanzt und diesen heiligen Hainen ein besonderer Kult gewidmet. Fichte und Zypresse galten in den Mittelmeerländern als Symbole der Todesgottheiten; sie wurden vor die Trauerhäuser gepflanzt (weil sie, einmal gestutzt, nie wieder ausschlagen) und dienten zugleich bei dem Schaugepränge der beklagten Sonnengottheiten, so in den Attis-, Adonis- und Dionysosfesten etc. Die Kelten verehrten die Steineiche, und die römischen Schriftsteller berichten von den heiligen Hainen und Bäumen der germanischen Stämme. Wir erfahren außer von der Weltesche Ygdrasill, dem Lebensbaum der Germanen, von den Eichen und Ebereschen Thors, den Eibenhainen Ullers; auch die Linde, die man überall in die Mitte der Ortschaften pflanzte, scheint den germanischen wie den slawischen Stämmen heilig gewesen zu sein. Einzelne gefeierte Bäume erreichten Weltruf, so der Buddhabaum von Anuradhapura auf Ceylon, dessen Geschichte sich für 22 Jahrhunderte urkundlich zurückverfolgen läßt, der Ölbaum auf der Akropolis, die heilige Palme auf Delos, der Feigenbaum, unter dem Romulus und Remus gesäugt worden waren, zu Rom, ein Hartriegelbaum daselbst, die Platane der Europa bei Gortyna (Kreta) und die des Cäsar in Tartessus u. a. Eine besondere Seite des B. zeigten die Jahreszeitenfeste mit reichen Laubausschmückungen, namentlich im alten Germanien, die Kämpfe zwischen Frühjahr und Winter in dramatischen Szenen (s. Maifest), das Julfest mit Tannen und Mistelschmuck der Wohnungen, Kultusformen, die in unsrer Pfingstausschmückung und unsern Weihnachtsgebräuchen noch heute fortdauern, und ebenso lebt in den Sagen von den bei Verletzungen blutenden und unverletzlichen Bäumen ein Teil dieser Vorstellungen fort. Einer eigentümlichen Art von B. gehören endlich die mit bunten Bändern und Fetzen geschmückten Lappenbäume (s. d.) der verschiedensten Völker an. Vgl. Bötticher, Der B. der Hellenen (Berl. 1857); Koberstein, Über die Vorstellung von dem Fortleben menschlicher Seelen in der Pflanzenwelt (Naumb. 1849); Mannhardt, Der B. der Germanen und ihrer Nachbarstämme (Berl. 1875); Fergusson, Tree and serpent worship in India (2. Aufl., Lond. 1873).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 480.
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