Fettsucht

[492] Fettsucht (Obesitas, Adipositas, Lipomatosis universalis, Polysarcía), übermäßige Anhäufung von Fett im Körper. Die leichtern Grade der F. (Embonpoint, Korpulenz) verursachen kaum einige Beschwerde. Selbst bei schon beträchtlichem Umfang erfreuen sich die Leute oft noch vortrefflichen Wohlseins, wie es denn überhaupt eine scharfe Grenze zwischen gesunder Wohlbeleibtheit und krankhafter F. nicht gibt. Im allgemeinen nimmt man an, daß F. bei Männern etwa bei einem Körpergewicht von 95 bis 100, bei Frauen von 80 kg beginnt. Die Fettmenge eines gesunden erwachsenen Menschen soll etwa ein Zwanzigstel, die des Neugebornen ein Zehntel des Körpergewichts betragen. Krankhaft ist die Fettleibigkeit, wenn sich Störungen der Gesundheit einstellen, z. B. Muskelschwäche, Verdauungsbeschwerden, Atemnot, Störungen der Herzbewegung, Schwindel etc. In bezug auf das Gewicht und den Umfang des Körpers fettsüchtiger Personen finden sich unglaublich scheinende Angaben. So sollen Kinder von 4, bez. 10 Jahren schon 41, 68, ja 128, bez. 109 kg, Erwachsene 250–490 kg gewogen haben. – Unter den prädisponierenden Ursachen ist am wichtigsten die Erblichkeit, die nach Bouchard für 46 Proz. der Fälle gilt. In gewissen Familien werden alle Mitglieder sehr fettleibig, und »Fettkinder« sind nicht allzu selten. Die F. tritt selten vor der Pubertät, noch seltener angeboren auf, verliert sich auch im letztern Fall oft während der Weiterentwickelung; sie tritt am häufigsten bei Männern um das 40., bei Frauen um das 45.–50. Lebensjahr auf. Neben der erblichen Anlage ist eine zu reichliche Nahrungszufuhr, namentlich übermäßige Aufnahme von Kohlehydraten (Zucker, Stärke) der häufigste Grund zur Fettleibigkeit, die in diesen Fällen völlig der Mast bei Tieren gleichzustellen ist. Auch Alkoholgenuß wirkt, indem er durch seine leichte und vollständige Verbrennlichkeit andre Nährstoffe vor der Verbrennung schützt, begünstigend auf den Fettansatz; bei Biertrinkern ist daneben noch der große Nährwert des Bieres (Kohlehydrate) bedeutungsvoll. Häufig ist die Nahrungsaufnahme zwar nicht eine absolut sehr reichliche, jedoch relativ zu groß in Anbetracht eines geringen Stoffumsatzes. Dies trifft besonders zu bei Mangel an körperlicher Bewegung, anhaltender Untätigkeit und phlegmatischem Temperament. Wärme begünstigt den Fettansatz, Kälte wirkt ihm entgegen durch Anregung der Zersetzungsvorgänge. Ausschaltung der Geschlechtsdrüsen, etwa durch Kastration (bei Eunuchen) oder in den Wechseljahren bei Frauen, soll durch Einschränkung der Zersetzungsvorgänge im Protaplasma F. begünstigen, was jedoch von andrer Seite bestritten wird. Aus dem Gesagten erklärt es sich, daß F. um das 40.–50. Jahr am häufigsten auftritt, daß sie bei Frauen oft mit dem Eintritt des Klimakteriums beginnt; daß ferner gewisse Gewerbe (Schlächter, Brauer) besonders die F. begünstigen. Auch gewisse ethnologische und klimatische Verhältnisse (feuchtes Klima) spielen eine gewisse Rolle. Der übermäßigen Ablagerung von Fett dienen zunächst die Körperstellen, an denen sich normalerweise Fettgewebe befindet, bei höhern Graden von F. auch solche, die normal wenig oder kein Fett enthalten. Demgemäß findet sich das Fett unter der Haut (Panniculus adiposus), besonders unter der des Bauches, des Gesäßes, der Hüften (besonders bei Frauen), in großer Menge, ferner im Gekröse, im Netz, im Dickdarm und um die Nieren herum; selbst auf dem Herzbeutel und dem Herzen selbst, im Innern der Leberzellen (s. Fettleber), zwischen den Muskeln und in andern Organen häuft es sich an. Der Fettansatz erfolgt 1) aus zu großem Fettreichtum der Nahrung, 2) durch Überschuß von Fett, das aus zersetztem Eiweiß abgespalten ist, 3) aus unzerstört gebliebenem Fett, das durch Kohlehydrate geschützt oder aus ihnen gebildet ist, und 4) endlich dadurch, daß die Fähigkeit der Zellen zur Stoffzersetzung durch eine noch unklare Konstitutionsanomalie verringert ist. Der jedesmaligen individuellen Ursache der Fettentstehung muß die Fettentziehungskur entsprechen. Wo ein Überschuß gewisser Nahrungsstoffe die Ursache der Fettleibigkeit ist, muß dieser beseitigt werden, meist aber genügt es, alle Nahrungsstoffe bis zu einem gewissen Maße zu verringern, da ja die meisten Fälle von F. nur auf zu reichlicher Aufnahme aller Nahrungsbestandteile beruhen. Man wird daher, ohne Bevorzugung bestimmter Nahrungsmittel, die Gesamtaufnahme so weit einschränken, daß sie die Erhaltungskost eines Körpers darstellt, der das Normalgewicht des Menschen von dem gegebenen Alter und der gegebenen Körperlänge aufweist. Die Gewichtsabnahme wird dann eine zwar langsame, aber sichere und unschädliche sein. Raschere Gewichtsabnahmen erzielen bestimmte Kurmethoden, von denen die Bantingkur besonders bekannt ist. Bei derselben wird unter relativ reichlicher Eiweißzufuhr die Aufnahme von Fett und Kohlehydrat auf das äußerste beschränkt. Eine ähnliche Kostordnung verband Örtel mit starker Einschränkung der Flüssigkeitsaufnahme, der er eine besondere Wirksamkeit hinsichtlich der Einschmelzung des Fettes zuschrieb, ohne daß eine solche jedoch erwiesen wäre. Beiden Methoden gemeinsam ist, daß sie eine richtige Hungerkur darstellen, indem sie nur etwa die Hälfte oder nur ein Drittel des Erhaltungskostmaßes zuführen. Gewisse Nachteile beider Kuren, große Beschwerden durch Hungergefühl, Schwächezustände und Nervosität durch Einschmelzung des Eiweißbestandes (also lebenden Zellmaterials) werden vermieden durch Ebsteins Methode, bei der Eiweißstoffe und namentlich Kohlehydrate stark beschränkt, dagegen ziemlich reichliche Fettmengen gegeben werden, im ganzen aber ebenfalls eine starke Unterernährung erzielt wird. Alle Entfettungskuren werden zweckmäßig unterstützt durch reichliche Bewegung, kurzen Schlaf, Schwitzbäder, kühle Bäder und leichte Bekleidung. Beim Gebrauch von Kurorten (Karlsbad, Marienbad) ist die zweckmäßige Lebensweise wohl das Ausschlaggebende, die Trinkkur dagegen nebensächlich. Rasche Entfettung kann erzielt werden durch den Gebrauch von Schilddrüsensubstanz in Gestalt frischer Drüsen oder von Dauerpräparaten. Dabei wird der Stoffwechsel gesteigert; jedoch ist wegen schädlicher Nebenwirkungen Vorsicht nötig. Vgl. Banting, Letter on corpulence addressed to the public (Lond. 1864[492] u. ö.); Vogel, Korpulenz, ihre Ursachen, Verhütung und Heilung (23. Aufl., Berl. 1903); Kisch: Fettleibigkeit der Frauen im Zusammenhang mit den Krankheiten der Sexualorgane (Prag 1872), Die Fettleibigkeit (Stuttg. 1888) und Entfettungskuren (Berl. 1900); Ebstein, Die Fettleibigkeit und ihre Behandlung (7. Aufl., Wiesb. 1887); Maas, Die Schwenninger-Kur (16. Aufl., Berl. 1895); Örtel, Die Ebsteinsche Flugschrift über Wasserentziehung (Leipz. 1885); v. Noorden, Die F. (in Nothnagels »Spezielle Pathologie und Therapie«, Wien 1900); Leber, Die F. (Münch. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 492-493.
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