Gießen

[832] Gießen, Hauptstadt der hess. Provinz Oberhessen, in anmutiger Lage am Einfluß der Wieseck in die Lahn, 165 m ü. M., macht, obschon der älteste Stadtteil eng und winklig erscheint, im ganzen durch zahlreiche Neubauten einen modernen Eindruck. Die erstmalig von Philipp dem Großmütigen 1530–33 errichteten Festungswerke wurden 1805 endgültig geschleift. An ihre Stelle sind schöne Promenaden getreten.

Wappen von Gießen.
Wappen von Gießen.

Die ansehnlichsten Plätze sind: der Brand, das Kreuz, der Kirchen- und der Marktplatz. Unter den Gebäuden sind hervorzuheben: die Stadtkirche und die Johanneskirche, eine neue (1904) kath. Kirche, 2 Synagogen, eine im 14. Jahrh. errichtete Wasserburg (jetzt Museum), ein landgräfliches Zeughaus (jetzt Kaserne) mit dem sogen. Schlößchen, die Gebäude der Universität und ihrer Anstalten, das Justizgebäude, das Volksbad, die Kasernen. Nennenswerte Monumente sind: das Kriegerdenkmal von L. Habich und das Denkmal Justus v. Liebigs (von Schaper). G. hat (1900) einschließlich der Garnison (Infanterieregiment Kaiser Wilhelm Nr. 116) 25,491 (1904 etwa 27,500) Einw., darunter 2464 Katholiken und 895 Juden. Industrie und Handel sind sehr rege. Hervorzuheben sind: Tabak- und Zigarrenfabrikation (3000 Arbeiter), Textilindustrie, Bierbrauerei, Eisengießerei und Maschinenfabrikation, Müllerei, Korsett-, Lampen-, Möbel-, Geldschrank-, Erdfarben-, Lack- und Firnisfabrikation etc. In der Umgegend ist eins der bedeutendsten Braunsteinbergwerke der Welt Der Handel wird durch eine Handelskammer, eine Reichsbanknebenstelle und andre Geldinstitute unterstützt. G. ist Knoten- oder Ausgangspunkt der Staatsbahnen Frankfurt a. M.- Niederwalgern, Köln-G., G.-Fulda, G.-Gelnhausen, G.-Koblenz. Die 1607 vom Landgrafen Ludwig V. gegründete Universität (Ludoviciana), die 1625–50 nach Marburg verlegt war, zählte 1903: 1092 Studierende. Sie hat eine große Zahl neuerrichteter und modernen Bedürfnissen entsprechender Institute und Anstalten, besonders für den medizinischen und naturwissenschaftlichen Unterrichtsbetrieb: Bibliothek (1904), chemisches Laboratorium, physikalisches und physikalisch-chemisches [832] Institut, psychiatrische, medizinische und gynäkologische Klinik, chirurgische und Augenklinik (im Bau), pathologisches und hygienisches Institut, mehrere neue Veterinärinstitute (s. Tierärztliche Hochschulen), anatomisches, physiologisches, pharmakologisches und zoologisches Institut, botanischer und forstbotanischer Garten u. a. Der Unterricht in der Landwirtschaft und im Forstfach ist mit der Universität verbunden. An sonstigen Lehranstalten besitzt G. ein Gymnasium, ein Realgymnasium und eine Oberrealschule. Auch hat die Stadt eine ständige Kunstausstellung und ist Sitz der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde, des Oberhessischen Geschichtsvereins etc. Die städtischen Behörden zählen 4 Magistratspersonen und 27 Stadtverordnete. G. ist Sitz der Provinzialdirektion für Oberhessen, eines Kreisamtes und eines Landgerichts. Zum Landgerichtsbezirk G. gehören die 20 Amtsgerichte zu Alsfeld, Altenstadt, Büdingen, Butzbach, Friedberg in Hessen, G., Grünberg, Herbstein, Homberg in Oberhessen, Hungen, Laubach, Lauterbach, Lich, Nauheim, Nidda, Ortenberg, Schlitz, Schotten, Ulrichstein und Vilbel. In der Nähe liegen die Burgruinen Gleiberg (s.d.), Vetzberg und Staufenberg sowie die ehemalige Deutschordenskomturei Schiffenberg. – G. (bei den Alten oft »Zu den Gissen« genannt, wahrscheinlich von den zahlreichen Flüßchen, die hier ihr Wasser in die Lahn »gießen«) gehörte ursprünglich zur Grafschaft Gleiberg, kam 1203 an den Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen, erhielt um die Mitte des 13. Jahrh. Stadtrecht und ward 1265 mit der Grafschaft G. an Hessen verkauft. Mit dem Aussterben der Marburger Linie fiel G. 1604 an Hessen-Darmstadt. Während des Siebenjährigen Krieges war G. 1759–63 von den Franzosen besetzt. Vgl. Buchner: Führer für G. und das Lahntal (2. Aufl., Gieß. 1891), G. vor 100 Jahren (das. 1879), Aus Gießens Vergangenheit (das. 1886); Kraft, Geschichte von G. bis 1265 (Darmst. 1876); Nebel, Kurze Übersicht einer Geschichte der Universität G. (Marburg 1828); K. Vogt, Aus meinem Leben (Stuttg. 1895); Bock, Aus einer kleinen Universitätsstadt (Gieß. 1896); Kehm, Die Geschichte der Gießener Tabakindustrie (Ulm 1903); Biermer, Die Universität G., in dem Sammelwerk »Das Unterrichtswesen im Deutschen Reiche«, Bd. 1 (Berl. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 832-833.
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