Lothringen [1]

[729] Lothringen (franz. Lorraine), ehemals ein deutsches Herzogtum, war zu verschiedenen Zeiten von sehr verschiedenem Umfang. Die selbständige Geschichte des Landes beginnt mit Lothar II. (s. Lothar 3), Sohn des Kaisers Lothar I., der 855 in der Teilung mit seinen Brüdern Ludwig und Karl das nach ihm benannte Land links vom Rhein bis jenseit der Maas, im NW. bis zur Schelde und Friesland erhielt. Nach Lothars Tod (869) nahm Karl der Kahle das Land in Besitz, aber Ludwig der Deutsche entriß ihm im Vertrag von Mersen 8. Aug. 870 den östlichen, bei weitem größern Teil von L. und Friesland, um ihn zu Deutschland zu schlagen; auch Westlothringen verloren 879 die Söhne Ludwigs des Stammlers von Frankreich an Ludwig den Jüngern. König Arnulf gab L. 895 seinem natürlichen Sohn Zuentebulch als König. Graf Reginar, der sich gegen ihn erhob, drängte nach seinem Tode (900) das fränkische Geschlecht der Konradiner zurück und wurde erster Herzog von L. (um 911). Fortan wurde das Gebiet der Mosel, Maas und eines Teiles des Niederrheins als L. betrachtet; Elsaß und Friesland und ebenso der auf dem linken Rheinufer belegene Teil von Franken gehörten nicht mehr dazu, während auf dem rechten Ufer ein schmaler Strich unterhalb Andernach noch zu L. gerechnet wurde. Frankreich strebte immer nach dem Besitz von L., aber König Heinrich I. stellte die vorige Verbindung durch Verträge, sowohl mit Karl von Frankreich als auch mit Rudolf von Burgund, wieder her (921,923) und vermählte seine Tochter Gerberga mit Reginars Sohn Giselbert. Nachdem dieser, im Begriff, das von Kaiser Otto I. belagerte Andernach zu entsetzen, 939 im Rhein ertrunken war, trat Ottos I. Bruder Heinrich an seine Stelle, wurde aber wegen seiner Treulosigkeit durch Otto. Richwins Sohn, ersetzt. Nach dessen Tod (944) folgte Konrad der Rote, der 953 wegen Teilnahme an einer Verschwörung gegen Otto I. L. verlor, und nun erhielt L. des Kaisers Bruder Bruno, Erzbischof von Köln. Diesem wurden zwei Herzoge untergeordnet: der eine, Gottfried, sollte das Land an der Maas (Niederlothringen), der andre, Friedrich, das an der Mosel (Oberlothringen) regieren. Auch nach Brunos Tod (965) blieben beide Teile getrennt.

In Oberlothringen herrschte Friedrichs Geschlecht bis 1033; dann fiel das Land an Gozelo I. von Niederlothringen. Nach dessen Tode (1044) erhielt sein ältester Sohn, Gottfried der Bärtige, Oberlothringen, verband sich aber mit Frankreich gegen Kaiser Heinrich III. und wurde entsetzt. 1048 belehnte der Kaiser den Grafen Gerhard von Elsaß mit Oberlothringen, welcher der Stammvater aller nachmaligen Herzoge wurde. In den folgenden Jahrhunderten verminderte sich der Territorialbesitz der Herzoge, indem manche Gebietsteile an jüngere Söhne kamen, die dann nach und nach Landeshoheit erwarben. Seitdem Niederlothringen den Namen »Brabant« bekommen hatte, hieß Oberlothringen schlechtweg das Herzogtum »L. c Dietbald II.« (1304–12) erklärte 1306 auf einem Landtag auch die Töchter für erbberechtigt, was später zu vielem Streit Anlaß gab. Rudolf (1328–46) fiel als Bundesgenosse des Königs von Frankreich gegen England 1346 bei Crécy. Sein Sohn Johann I. kämpfte ebenfalls für Frankreich, wurde 1356 und 1364 gefangen und starb 1390 in Paris. Sein Nachfolger Karl II. (I.) war gleichfalls ein tapferer Kriegsmann und wurde Connétable von Frankreich. Er hinterließ 1431 L. seiner mit Renatus (René) von Anjou und Bar vermählten Tochter Isabella. Anton von Vaudemont, Karls Neffe, bestritt die weibliche Nachfolge, schlug und sing 2. Juli 1431 bei Bulgnéville den René und übergab ihn seinem Lehnsherrn, dem Herzog Philipp von Burgund, der ihn bis 1444 festhielt, weil der Gefangene das riesige Lösegeld (400,000 écus d'or) nicht eher aufbringen konnte. Außerdem hatte er in dem Vertrage vom 9. Febr. 1437 vollständig auf alle flandrischen Besitzungen aus der Erbschaft des Herzogs Robert von Bar verzichten und seine einzige Tochter Jolantha (geb. 1428) dem Sohn Antons, Frédéric de Vaudemont, angeloben müssen, so daß nach seinem Tode beide Herzogtümer, Bar und L., an Frédéric fallen sollten. Da René erst 1480 starb, besaß Frédéric de Vaudemont (gest. 1483) die Erbschaft nur drei Jahre. Ihm folgte sein Sohn Renatus II. (gest. 1508), dessen Mutter Jolantha eine Tochter der Isabella von L. gewesen war. Renatus II. (René) wurde 1475 von Karl dem Kühnen vertrieben, gewann aber 1477 sein Land wieder. Sein Enkel Franz 1. starb früh (1545) und hinterließ das Herzogtum dem minderjährigen Karl III. (oder II.; gest. 1608), für den seine Mutter Christine, Prinzessin von Dänemark, bis 1559 die Regierung führte. Am 13. März 1552 rückten die Franzosen in L. ein und besetzten Toul, Verdun und Metz. Während des Dreißigjährigen Krieges suchte Karl IV. (oder III.; 1624–1675) sich als Verbündeter des Kaisers noch einmal der französischen Übermacht zu entziehen, aber Ludwig XIII. besetzte 1632 L., und Kardinal Mazarin gab es erst im Pyrenäischen Frieden 1659 heraus. Schon 1670 eroberte Ludwig XIV. wiederum L., behielt es auch im Frieden zu Nimwegen 1678 und setzte erst im Frieden zu Ryswyk 1697 den Sohn des 1690 verstorbenen Karl V. (IV.), Leopold Joseph Karl wieder als Herzog ein. Frankreich (Kardinal Fleury) nahm L. (1733) im Polnischen Erbfolgekrieg wieder in Besitz und erhielt es mit dem Herzogtum Bar im Wiener Frieden 1738 einstweilen auf Lebenszeit für den ehemaligen König Stanislaus von Polen, für dessen Todesfall aber mit völliger Souveränität. Dagegen bekam der letzte Herzog, Franz Stephan (seit 1729), Gemahl der Maria Theresia, das Großherzogtum Toskana als Entschädigung. Zwar war dem Herzogtum L. 1736 sein Sitz und Stimmrecht bei deutschen Reichs- und Kreistagen vorbehalten und verblieb ihm bis zum Frieden von Lüneville (1801), aber das Land kam sogleich in französische Verwaltung und ward nach Stanislaus Tode (22. Febr. 1766) dem französischen Reich völlig einverleibt. Im Frieden zu Frankfurt (10. Mai 1871) mußte Frankreich das Departement der Meurthe und die Arrondissements Saarburg und Château-Salins an Deutschland abtreten, 6223 qkm[729] mit 489,000 Einw. Sie bilden den Bezirk L., der in acht Kreise zerfällt (s. Elsaß-Lothringen, mit Karte).

Niederlothringen hatte in der Teilung Lothringens von 954 Gottfried I. erhalten. Nach seinem Tode 964 wurde das Land eingezogen und 976 an Karl, den Bruder des Königs Lothar von Frankreich, von Otto II. als Reichslehen verliehen. Karls Sohn und Nachfolger Otto starb 1004 ohne Nachkommen. 1012 erhielt Gottfried, der Sohn des Grafen Gottfried von Verdun, Niederlothringen, ihm folgte 1023 sein Bruder Gozelo I., der 1033 auch mit Oberlothringen belehnt wurde. Als er 1044 starb, gab Kaiser Heinrich III. dessen jüngerm Sohn, Gozelo II., Niederlothringen. Nachdem noch der ehemalige Herzog Gottfried 11. von Oberlothringen 1065–70 in Niederlothringen geherrscht, fiel dies an seinen Sohn Gottfried den Buckligen, einen treuen Anhänger Heinrichs IV. Er adoptierte seinen Neffen Gottfried von Bouillon, den 1088 der Kaiser mit Niederlothringen belehnte. Nach dessen Tod in Jerusalem (1100) übertrug Kaiser Heinrich V. Gottfried dem Bärtigen, Grafen von Brabant, das Herzogtum, der es sich aber erst gegen Heinrich von Limburg erkämpfen mußte. Doch die Feindschaft zwischen beiden Geschlechtern bestand, bis 1155 die Limburger, aus dem Verband Niederlothringens entlassen, Titel und Rechte eines Herzogs in ihrem eignen Gebiet erhielten. Seit Heinrich I. (1186–1235) nannten sich die Herzoge von Niederlothringen Herzoge von Brabant. Herzogin Johanna trat 1404 das Herzogtum an Anton von Burgund ab, und dieser gründete hier 1405 eine Sekundogenitur. 1429 wurde es endlich, ebenso wie Hennegau und Holland, durch Herzog Philipp den Guten mit Burgund vereinigt.

Vgl. Huhn, Deutsch-L., Landes-, Volks- und Ortskunde (Stuttg. 1875); This, Die deutsch-französische Sprachgrenze in L. (Straßb. 1887); Witte, Das deutsche Sprachgebiet Lothringens (Stuttg. 1894); »Statistische Mitteilungen über Elsaß-L.«, Heft 28: Die alten Territorien des Bezirks L. nach dem Stande vom 1. Januar 1648 (Straßb. 1898); »Das Reichsland Elsaß-L., Landes- und Ortsbeschreibung« (hrsg. vom Statistischen Bureau, das. 1902); Digot, Histoire de Lorraine (2. Aufl., Nancy 1879–80, 6 Bde.); Haussonville, Histoire de la réunion de la Lorraine á la France (2. Aufl., Par. 1860, 4 Bde.); Wittich, Die Entstehung des Herzogtums L. (Götting. 1862); Lecoy de la Marche, Le roi René (Par. 1875, 2 Bde.); Mourin, Récits lorrains (Paris u. Nancy 1895); Derichsweiler, Geschichte Lothringens (Wiesbad. 1901, 2 Bde.) und dessen kurzen Abriß in der »Sammlung Göschen« (Leipz. 1905); Duvernoy, Le duc de Lorraine Mathieu Ier 1139–1178 (Par. 1904) und Les États Généraux des duchés de Lorraine et de Bar jusqu'à la majorité de Charles II 1559 (das. 1904); Kraus, Kunst und Altertum in L. (Straßb. 1886–88); »Lothringische Kunstdenkmäler«, herausgegeben von Wahn und Wolfram (das. 1896–99); Fitte, Das staatsrechtliche Verhältnis des Herzogtums L. zum Deutschen Reich seit dem J. 1542 (das. 1891); Bonvalot, Histoire du droit et des institutions de la Lorraine (Bar-le-Due 1895); P. Darmstädter, Die Befreiung der Leibeigenen (mainmortables) in Savoyen, der Schweiz und L. (Straßb. 1897); »Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde« (Metz 1888 ff.); die »Geschichtskarten von Deutschland« (in Bd. 4) und die »Geschichtskarte von Frankreich« (in Bd. 6).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 729-730.
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729 | 730
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