Orientalische Sprachen

[360] Orientalische Sprachen (Morgenländische Sprachen), früher, als sich das Sprachstudium auf die Sprachen einiger semitischer Völker, wie der Juden, Araber, Syrer u. Äthiopier, sowie einiger andern christlichen Völker des Orients, wie Kopten u. Armenier, beschränkte, die Sprachen der genannten Völker, im Gegensatz zu der altklassischen u. neuern abendländischen Sprache; jetzt aber, wo sich der Gesichtskreis der Europäer nach Osten hin erweitert hat, sämmtliche Sprachen, welche von allen Völkern Asiens, sowie von denjenigen Völkern des nördlichen u. östlichen Afrika, des östlichen Europa u. eines Theils von Oceanien gesprochen werden, welche den verschiedenen Culturkreisen Asiens anheimgefallen sind. Auch die Beweggründe zu dem Studium der O. S. sind im Laufe der Zeit ganz andere geworden. In der zweiten Hälfte des Mittelalters nahm bes. das Arabische die Aufmerksamkeit der Europäer in Anspruch, theils aus Bekehrungseifer, welcher namentlich mehre Päpste veranlaßte darauf zu dringen, daß an den Universitäten Lehrstühle für das Arabische errichtet wurden, theils aus wissenschaftlichem Eifer, welcher die mathemathischen, medicinischen u. philosophischen Schriften der Araber, sowie die in arabischer Übersetzung erhaltenen Werke des Aristoteles dem Abendlande zugänglich machen wollte; vielfache Anregung zur Beschäftigung mit dem Arabischen bot auch die Herrschaft der Araber in Spanien, der rege Handelsverkehr derselben mit Südeuropa, endlich die Kreuzzüge. Schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. beginnt die Reihe lateinischer Übersetzungen arabischer Werke, welche sich in der Folgezeit sehr mehrten u. seit den letzten Decennien des 15. Jahrh. auch in Druck erschienen. Ein neues belebendes Element erhielten die Orientalischen Studien durch die Reformation; da dieselbe auf die Urtexte der Heiligen Schrift zurückging, so war es jetzt zunächst für die Gelehrten das Hebräische, was der Mittelpunkt derselben wurde; bald jedoch wurde zur genauern Erforschung des Alten Testaments sowie der alten morgenländischen Übersetzungen der Bibel von Katholiken wie von Protestanten das Rabbinische, Syrische, Arabische, Chaldäische, Samaritanische, weiter auch das Äthiopische, Koptische u. Armenische in das Bereich der Orientalischen Studien gezogen. Für die Protestanten[360] blieb noch lange Zeit hindurch der Nutzen, welchen die Kenntniß anderer O. S. für die biblische Kritik u. Exegese hatten, maßgebend u. bestimmend für das Studium derselben; für die Katholiken trat jedoch ein anderer Beweggrund hinzu, der immermehr das Übergewicht erlangte, nämlich die Sorge für die morgenländischen Missionen, wie sie deren nicht nur unter den christlichen u. muhammedanischen Völkern Vorderasiens allenthalben besaßen, sondern seit der Entdeckung des Seewegs nach Ostindien auch in beiden Indien, in China u. Japan errichteten. Vom Papst Urban VIII. wurde 1627 für Missionszwecke das Collegium pro fide propaganda (s. Propaganda) gestiftet, in welchem O. S. gelehrt u. studirt wurden; die Jesuiten in China u. Japan machten in Europa auch die Sprachen dieser Länder bekannt. Als die Niederländer, die Dänen u. die Engländer feste Niederlassungen in der Indischen Welt begründet u. unter ihrem Schutze auch protestantische Missionen sich daselbst gebildet hatten, übernahmen es diese, die Kenntniß der O. S. weiter zu führen; namentlich wurde schon im 17. Jahrh. von den Niederländern Beachtenswerthes bes. für die Malayischen Sprachen geleistet. In dem protestantischen Europa erhielt das Studium der O. S. um die Mitte des 18. Jahrh. eine mehr wissenschaftliche Richtung, indem man diese Sprachen nicht mehr bloß für Zwecke der Bibelerklärung u. der Mission studirte, sondern auch um die in ihnen erhaltenen Literaturen u. aus denselben die Bildung u. die Geschichte der Orientalischen Völker kennen zu lernen; durch mehre Holländer (Schultens) u. Deutsche (Reiske etc.) wurden verschiedene arabische Schriftwerke, namentlich Dichter u. Geschichtsschreiber, herausgegeben, durch Anquetil die Zendavesta nach Europa gebracht. Der Engländer Will. Jones in Ostindien (1780–90) machte auf den Reichthum u. Gehalt der Altindischen Literatur aufmerksam u. stiftete in Calcutta 1784 die erste Asiatische Gesellschaft (s.d.). In Frankreich wirkte seit 1790 Silvestre de Sacy für eine umfassendere Benutzung der arabischen Schriftsteller u. ein gründlicheres Studium der Arabischen Sprache. Hatten bisher die Orientatischen Studien den übrigen Wissenschaften gegenüber eine mehr untergeordnete Stellung eingenommen, so erhoben sie sich mit Ausgang des 18. Jahrh. zu einem selbständigen Gebiete der Forschung, erhielten in den Asiatischen Gesellschaften ihre eigenen einflußreichen Organe u. sind seit einigen Jahrzehnten als unabweisbares Moment in unsern Bildungsgang eingetreten. Der ungemeine Aufschwung, welchen die Kunde des Orients in den letzten Jahrzehnten genommen hat, ist einestheils durch das praktische Bedürfniß bedingt, anderntheils hängt es mit dem Aufblühen der historischen sowie der ethnographisch-linguistischen Studien zusammen. Das Bedürfniß zur Erlernung der O. S. mußte sich namentlich in den Staaten herausstellen, welche nicht nur den Welthandel beherrschen od. wenigstens hervorragenden Antheil an demselben nehmen, sondern auch im Orient wichtige Colonialreiche gegründet haben, wie England, die Niederlande, Frankreich, od. Völker, welche orientalischen Culturkreisen angehören od. in sich begreifen, wie Rußland; es wurden daher in diesen Staaten eigne Lehranstalten für O. S., wie (Haileybury in England, in Wien, in Petersburg, wo seit 1857 die Universität eine eigne Orientalische Facultät erhielt die Ecole des langues orientales vivantes zu Paris) errichtet, während fast alle europäischen Universitäten Professuren erhielten, welchen vor Allem die wissenschaftliche Verarbeitung des immer reicher zuströmenden Materials obliegt. Während jedoch die genannten Völker der Kenntniß des Orients bisher durch Beschaffung des Materials den meisten Vorschub leisteten, waren es bes. die Deutschen, welche sich um die rein wissenschaftliche Bearbeitung u. Durchdringung die meisten Verdienste erwarben. In Deutschland haben sich die Orientalischen Studien nach dem Vorbild der klassischen Philologie zu einem eignen wissenschaftlichen Ganzen, der Orientalischen Philologie, entwickelt, d.i. derjenigen Wissenschaft, welche sich damit beschäftigt den Geist des Orients u. der Orientalischen Völker älterer wie neuerer Zeit, wie sich derselbe in ihren Sprachen u. Literaturen, Religion, Kunst u. dem gesammten öffentlichen u. Privatleben ausprägt, zu erforschen u. in seiner Eigenthümlichkeit gegenüber dem Geistesleben der Völker der antiken u. modernen Abendländischen Cultur darzulegen. Als die bedeutendsten Träger dieser neuen Richtung der Orientalischen Studien sind vorzüglich Gesenius u. Ewald, Schlegel, Lassen, Wilhelm von Humboldt u. Bopp mit ihren zahlreichen Schülern zu nennen. Durch mehre der letztern (u. vorzugsweise deutsche Namen) ist die wissenschaftliche Orientalische Philologie auch ins Ausland verpflanzt worden. Auf Grund der O. S. wurde namentlich auch in Deutschland dem gesammten Sprachstudium ein neues Leben eingehaucht u. durch Wilh. von Humboldt u. Bopp erst eine Sprachwissenschaft u. vergleichende Sprachkunde geschaffen; der Einfluß, welchen die Kenntniß des orientalischen Geisteslebens einestheils für andere Wissenschaften, wie Religions- u. Culturgeschichte, Geographie, Ethnographie etc., andererseits für die Entwickelung des Verkehrs wie der Gestaltung der Verhältnisse zwischen den herrschenden Abendländern u. den unterworfenen Orientalen geübt hat, ist bereits von hoher Wichtigkeit u. wird sicher von immer höherer Bedeutung werden.

Während sich bis gegen Ende des 18. Jahrh. das orientalische Studium fast nur auf die Sprachen des moslemischen u. christlichen Orients erstreckte, hat dasselbe im Laufe der Zeit eine solche Ausdehnung gewonnen, daß es für einen einzigen unmöglich geworden ist, sich auf allen Gebieten zu gleicher Zeit mit Sicherheit zu bewegen. Die Orientalisten der Gegenwart zerfallen daher in verschiedene Gruppen, je nach den Gebieten u. Culturkreisen, deren Erforschung sie sich vorzugsweise gewidmet haben. Zu den O. S.u. Literaturen (Sprachen des Orients, welche keine Literaturen besitzen, haben kein philologisches, sondern nur ein linguistisches Interesse) rechnet man aber folgende: Zu dem ostasiatischen od. Chinesischen Culturkreise gehören: als dessen Mittelpunkt das Chinesische, das Japanische, das Koreanische u. das Anamitische, beide bisher noch unerforscht; das Mandschu. Zu dem Indischen Culturkreise gehört vor Allem das Sanskrit mit dem Prakrit; ferner die zum Theil erst in der Bildung begriffenen neuindischen Literaturen, worunter das Hindi u. Hindustani, die Bengalische, die Mahrattische, das Guzerati, Predschábl, Sindhi u. das Uriya gehören, sowie ferner im Dekan das Tamulische, Kanaresische, Malabarische u. Telugu Hieran reihen sich die Sprachen u. Literaturen der buddhistischen Völker[361] wie das Pali, das Singhalesische, das Birmanische u. Siamesische u. in Hochasien das Tibetanische, das Mongolische u. das Kalmückische. In Verbindung mit dem Altindischen wird das Studium der Altiranischen Sprachen, des Zend u. Altpersischen, weiter des jüngern Pehlewi u. Parsi, sowie überhaupt der Literatur der Parsen betrieben. Eine andere Gruppe von Gelehrten beschäftigt sich mit den Sprachen u. Literaturen der Völker, welche sich zum Islam bekennen. Den Mittelpunkt derselben bildet das Arabische; weiter gehören hierher das Persische mit dem Afghanischen, das Türkische (Uigurisch, Dschagataisch od. Osttürkisch, Kaptschakisch od. Tatarisch, Osmanisch od. eigentlich Türkisch), das Hindustani u. das Malaische mit dem Buginesischen u. dem Makassarischen, während das Javanische mit dem ältern Kawi mehr dem Indischen Culturkreise zugehört; die Kenntniß des Armenischen u. des Georgischen findet sich mehrfach vereinigt. Einen andern Studienkreis bilden die ältern Semitischen Sprachen u. Völker Vorderasiens; ein tieferes Eindringen in das Hebräische ist nicht möglich ohne die Kenntniß der übrigen ältern u. neuern Semitischen Sprachen, unter denen außer dem bereits erwähnten Arabischen das Chaldäische, das Syrische, das Äthiopische eigene Literaturen besitzen, während das Phönicische u. das Samaritanische, die Sprache der alten babylonischen u. assyrischen Keilinschriften nur aus Inschriften etc. bekannt sind. Das Studium des Talmudischen u. Neuhebräischen, welches bis zum 18. Jahrh. herab auch vielfach christliche Gelehrte, namentlich Exegeten des Alten Testaments, beschäftigte, ist in neuster Zeit fast ausschließlich den jüdischen Gelehrten verblieben. Einen eignen Zweig der Orientalischen Philologie bildet das Altägytische der hieroglyphischen Denkmäler, welches im Wesentlichen nur durch das Koptische verstanden werden kann. Vgl. Asiatische Sprachen u. die einzelnen Sprachen u. Literaturen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 360-362.
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