Sieyès

[72] Sieyès (fr., spr. Siäies), Emanuel Joseph, Graf von S., geb. 3. Mai 1748 in Frejus, studirte in dem Seminar St. Sulpice zu Paris Theologie u. wurde 1784 Canonicus des Domstifts zu Chartres u. Generalvicar der Diöcese, dann Mitglied der Chambre superieur des französischen Clerus. Als die Verwirrung der Finanzen durch die Berufung der Notablen 1787 nicht geheilt werden konnte u. Alles die Versammlung der Generalstaaten verlangte, schrieb er drei Broschüren: Vues sur les moy ens d'exécution, dont les représentants de la France pourront disposer en 1789, Par. 1788; Essai sur les priviléges, ebd. 1788, u. Qu'est-ce que le tiers-état, ebd. 1789, worauf ihn die Stadt Paris zu ihrem Abgeordneten bei den Reichsständen erwählte, als welcher er im Juli 1789 Reconnaissance et exposition des droits de l'homme et du citoyen schrieb. Als Mitglied der Commission zum Entwurf der Verfassung schrieb er: Préliminaires de la constitution française. Am 20. Jan. 1790 legte er der Nationalversammlung den Entwurf zu einem Preßgesetze vor, dem ersten dieser Art in Frankreich, u. kurz darauf auch den Plan zu einer Reorganisation der Rechts- u. Polizeiverwaltung, worin er die Einführung der Geschwornengerichte vorschlug. Die Idee der Eintheilung Frankreichs in Departements ging zu jener Zeit ebenfalls von ihm aus. Im Sommer 1790 wurde er Mitglied des Directoriums des Departements von Paris u. mit der Leitung des öffentlichen Unterrichts in demselben beauftragt. Als er sich der unentgeltlichen Aufhebung der geistlichen Zehnten vergebens widersetzt hatte u. die Anarchie immer mehr einriß, wurde er schweigsamer in der Nationalversammlung, aber 1791 vertheidigte er die vollkommene Religionsfreiheit, auch erklärte er sich damals für einen entschiedenen Gegner der Republik u. Anhänger der constitutionellen Monarchie. Nach Auflösung der constitutionellen Nationalversammlung zog er sich aufs Land zurück u. blieb während der Wirksamkeit der Gesetzgebenden Versammlung bis zum September 1792 allen politischen Verhandlungen fremd; aber zu dieser Zeit wurde er vom Departement Sarthe in den Nationalconvent gewählt, wo er sogleich einen Platz in dem Ausschusse erhielt, welcher die Vertheidigung des Vaterlandes zu leiten hatte. Bei dem Processe Ludwigs XVI. hatte er zwar Anfangs die Incompetenz des Nationalconvents darzuthun versucht, stimmte dann aber einfach für den Tod des Königs. Nach dem Sturze der Girondepartei beobachtete S. im Convent Schweigen u. entging dadurch der Proscription. Im März 1795 erwirkte er die Zurückberufung der durch den Sturz der Gironde vertriebenen Conventsmitglieder, trat dann in den Rath der Fünfhundert (damals machte der Abbé Poulle ein mißlungenes Attentat auf ihn), nahm auch an den Friedensunterhandlungen mit Preußen, Spanien u. Holland Theil u. wurde 1798 Gesandter in Berlin. Dort blieb er, bis er am 16. Mai 1799 an Rewbells Stelle ins Directorium erwählt wurde. In Paris fand er das Directorium unter sich uneinig, drei Mitglieder desselben wurden aus demselben ausgeschlossen, es fehlte an Geld u. die französischen Hure waren überall geschlagen. Als daher Bonaparte, aus Ägypten zurückkehrend, in Paris eintraf, trat S. sogleich mit ihm in Unterhandlung u. legte ihm einen neuen Constitutionsentwurf vor (mitgetheilt in Mignet's Geschichte der Französischen Revolution), welchen Bonaparte aber verwarf. Dennoch unterstützte er ihn bei der Revolution des 18. Brumaire u. trat mit ihm u. Roger Ducos als zweiter Consul provisorisch ins Consulat. Bei der Einführung der neuen Verfassung wurde S. Senator u. bald darauf zum Grafen u. Präsidenten des Senats ernannt, legte aber diese Stelle bald nieder u. nahm fortan wenig Antheil an den Verhandlungen. Nach der ersten Restauration zog er sich zurück, folgte aber während der Hundert Tage Napoleons Rufe in die Pairskammer; hier protestirte er jedoch gegen die Zusatzacte zur Verfassung u. weigerte sich der Eröffnung des Maifelds beizuwohnen. Nach der zweiten Restauration wurde er wegen seiner Stimme für die Hinrichtung des Königs aus Frankreich verbannt u. schlug seinen Wohnsitz in Brüssel auf, von wo aus er, da nach der Julirevolution 1830 alle durch die Ordonnanz vom 12. Januar 1816 verbannten Franzosen zurückberufen wurden, nach Paris zurückkehrte; hier lebte er in tiefster Zurückgezogenheit u. starb 20. Juni 1835 ziemlich arm. Bouley veröffentlichte unter dem Titel Théorio constitutionelle de S. Bruchstücke aus S-s ungedruckten Memoiren; seine politischen Schriften sind vollständig gesammelt von K. E. Ölsner, Lpz. 1796, 2 Bde. Vgl. Mignet, Notice historique sur la vie et les travaux de S., Par. 1836.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 16. Altenburg 1863, S. 72.
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