Pestalozzi

Pestalozzi

[456] Pestalozzi (Joh. Heinr.), der menschenfreundliche, im höchsten Grade uneigennützige Erzieher, wurde 1746 zu Zürich geboren und nach dem frühen Tode seines Vaters, der Arzt war, von seiner Mutter und von Verwandten in schlichter, [456] altväterlicher Frömmigkeit und Biederkeit erzogen.

Nachdem er die Schule seiner Vaterstadt mit Auszeichnung besucht, widmete er sich der Theologie, die er jedoch nach einigen Jahren mit der Rechtswissenschaft vertauschte, bis er durch I. I. Rousseau's »Emil oder über Erziehung« und eine schwere Krankheit, welche ihm sein zu eifriges Studiren zuzog, eine solche Abneigung gegen das Leben des Gelehrten bekam, daß er ihm ganz entsagte. Er vernichtete seine literarischen Sammlungen, erlernte die Landwirthschaft und kaufte sich für sein väterliches Erbe im J. 1768 unweit Lenzburg bei Bern ein Stück Land, wo er sich anbaute und sein Gütchen Neuhof nannte. Durch seine Gattin Anna Schultheß, eines Kaufmanns Tochter aus Zürich, ward er mit den Inhabern einer Kattunfabrik bekannt und nahm auch an diesem Geschäftszweige thätigen Antheil. Doch tief ergriffen von dem sittlichen Elende der Armen im Volke, das er in diesen Verhältnissen durch Erfahrung kennen lernte, beschloß er zu helfen, soweit er vermochte. Überzeugt, daß die Erziehung der Jugend allein das geeignete Heilmittel sei und ohnedies Kinderfreund aus Neigung, fing er 1775 an, verlassene Bettelkinder in sein Haus zu nehmen und ihnen Vater, Lehrer und Versorger zu werden. Bald sah er mehr als 50 um sich versammelt und verfolgte mehre Jahre seinen edlen Zweck blos aus eignen Mitteln; allein diese waren dazu nicht ausreichend und da ihm die Gabe abging, äußere Vortheile mit seinem Unternehmen zu verknüpfen oder wenigstens die Theilnahme Bemittelter dafür zu gewinnen, so gerieth P. in Bedrängnisse und ward noch dazu als ein Thor und Schwärmer verspottet. Das machte den edlen Mann aber so wenig in seinem Streben irre, wie daß sein merkwürdiger Volksroman »Lienhardt und Gertrud« (4 Bde., Basel 1781 und öfter), in welchem er seine theuer erkauften Erfahrungen über die Quellen des Elends der untern Volksclassen, und die Nothwendigkeit einer Fürsorge zum Besten derselben nach seinen Ideen, bekannt machte, zwar viel gelesen, aber wenig oder gar nicht verstanden wurde. Zur Erläuterung desselben gab er bald nachher »Christoph und Else« (Zürich 1782) heraus und sprach sich überhaupt mehrfach auf schriftlichem Wege über seine Zwecke und zugleich über seine Methode des Unterrichts aus. Zu einer Zeit, wo P. von Kränkungen und Unfällen besonders hart geprüft worden war und nachdem er aus Vaterlandsliebe abgelehnt hatte, die Ausführung seiner Pläne im Auslande zu versuchen, schrieb er seine gedankenreichen »Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwickelung des Menschengeschlechts« (Zür. 1797). Mehr als 100 verlassene Kinder verdankten P. schon ihre Erziehung zu brauchbaren Menschen, als er sich gezwungen sah, wegen erschöpfter Mittel sein Unternehmen aufzugeben. Hierauf legte er 1798 mit Unterstützung des schweiz. Directoriums ein Erziehungshaus für arme Kinder zu Stanz an, das aber der unruhigen Zeitverhältnisse wegen schon nach Jahresfrist wieder aufgelöst werden mußte. P. begründete nun zu Burgdorf eine Erziehungsanstalt nach seiner Methode, welche sich die Begünstigung der Selbstentwickelung der menschlichen Anlagen und Kräfte durch einen auf sinnliche und geistige Anschauung und fortschreitende Übung derselben berechneten Unterricht zur Aufgabe machte und die er auch durch Schriften: z.B. »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt« (Bern und Zür. 1801), »Buch der Mütter« (Bern und Zür. 1803) gemeinnützig zu machen sachte. Der Anklang, welchen sie allmälig fand, und P.'s Uneigennützigkeit brachten seine blos auf sich selbst angewiesene Anstalt schnell empor, ungeachtet er als ein entschiedener Mann des Volkes und daher von diesem auch 1802 als Anwalt zum ersten Consul nach Paris abgeordnet, besonders die Vornehmen wider sich hatte. Die Vereinigung mit ihm beipflichtenden, thätigen und geschickten Lehrern wurde möglich und bei der Verlegung seiner Anstalt nach München-Buchsee im J. 1804 trat er auch mit Fellenberg (s.d.) auf kurze Zeit in nähere Verbindung, übersiedelte aber im nämlichen Jahre noch seine Anstalt in das ihm von der Regierung dazu eingeräumte Schloß zu Yverdun oder Iferten am Neuenburgersee, wo sie bis 1825 bestand. Ein großes Hinderniß für P. war bei aller Tiefe seines Geistes und Genies und der beharrlichsten Ausdauer und Aufopferung für das Wohl der Menschen, daß es ihm an der gewöhnlichen Weltklugheit gebrach und daß er selbst die Eintracht unter seinen Mitarbeitern nicht aufrecht zu halten verstand. Außerdem erweckte ihm die Geringschätzung, mit welcher er über frühere Erziehungsmethoden sich aussprach, zahllose Gegner und erschwerte die Verbreitung der seinigen, von der er sich übrigens keineswegs einbildete, daß sie vollkommen sei. Seine Ansicht hat indessen in Spanien, Frankreich, Preußen, in Rußland und Nordamerika die verdiente Aufmerksamkeit gefunden, und wo sie im Geiste ihres Begründers befolgt wurde, sich durch glückliche Erfolge bewährt. Den Ertrag einer Ausgabe seiner sämmtlichen Schriften (15 Bde., Stuttg. und Tüb. 1819–26) bestimmte P. zum Fonds einer 1818 von ihm gestifteten Armenschule und starb im Febr. 1827 zu Brugg im Canton Aargau. Eine Selbstbiographie lieferte er unter dem Titel »Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iferten« (Lpz. 1826). Von Person war P. nicht groß, stets in nachlässiger schwarzer Kleidung, redete die züricher Mundart, und in seinem geraden, rücksichtslosen Benehmen sprach sich beständig der freie Schweizer aus, dem nur an Erreichung des Zweckes lag.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 456-458.
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