Stephan

[287] Stephan (Martin) hat als Stifter der nach ihm benannten Sekte der Stephanisten in neuerer Zeit eine traurige Berühmtheit erlangt Er wurde zu Stramburg in Mähren am 14. Aug. 1777 geboren. Als wandernder Leineweber fand er in Breslau, durch Geistesverwandte unterstützt, in einem schon vorgerückten Alter Gelegenheit, sich dem Predigerberufe zu widmen. Im J. 1806 bezog er die Universität Leipzig. Aus dem Vorurtheile, daß gelehrte Kenntnisse zur Frömmigkeit nichts nützten, setzte er hier das Studium ganz bei Seite, und nur das Lesen der deutschen Bibel und älterer Erbauungsschriften, das er mit um so größerm Eifer betrieb, wirkte zur Bereicherung und Entwickelung seines Predigertalents. Im J. 1809 kam er durch Empfehlung von Herrnhutern, ohne das theologische Candidatenexamen bestanden zu haben, als Pfarrer nach Hafer in Böhmen, und schon im nächsten Jahre folgte er dem Rufe in das erledigte Pfarramt an der böhmischen Gemeinde in Dresden. In dem Examen erhielt er von dem Consistorium das Zeugniß, daß, ob er wol schwach in Kenntnissen, doch wegen Äußerung christlicher Gesinnung und praktischen Talenten zu der Hoffnung einer redlichen Wirksamkeit berechtige. Anfangs gab auch weder die Predigt noch der Wandel S.'s einen Anspruch, bald aber zeigte es sich, daß er das Heil in der Wiederherstellung des Glaubens suche, wie er in den kirchlichen Bekenntnißschriften enthalten ist, deren Ansehen er dem der h. Schrift völlig gleich achtete. Nach der hierdurch bestimmten Eigenthümlichkeit seiner Lehren wirkte er auch außerhalb des Gottesdienstes in den sogenannten Conventikeln auf seine Gemeinde und suchte sich dieselbe dadurch immer enger zu verbinden. Einen Schritt zur Erweiterung seiner Wirksamkeit that S. aber dadurch, daß er sich seit 1829 mit andern Predigern, wie mit Keyl in Niederfrohne, Bürger in Lunzenau, dem Pfarrvicar Walther in Gersdorf, dem Pfarrer Walther in Bräunsdorf, in die engste Verbindung setzte und mit ihnen gemeinschaftlich für ein Christenthum eiferte, das über den Inhalt der symbolischen Bücher nicht hinausging und dadurch ebenso wol dem freien Gebrauche der h. Schrift, als jedem Bestreben der Wissenschaft feindlich entgegentrat. Die Gemeinden geriethen in Aufregung, es entstanden Parteien, ein Häuflein Auserwählter bildete sich, welche sich für Verfolgte, für Märtyrer des Christenthums ansahen und in der drohenden Losreißung von der Kirchengemeinschaft die traurigen Spuren der Sekte an sich trugen. Von jetzt an war die Wirksamkeit S.'s und seiner Verbündeten ein Gegenstand der öffentlichen Bekämpfung; die religiösen Abendversammlungen, die ihm bisher bis um 10 Uhr zu halten erlaubt waren, wurden untersagt, und man vermuthete hier, nach den Vorgängen mit den Muckern in Altpreußen, das Schlimmste. In dieser äußern Bedrängniß wurde von S. zuerst der Gedanke der Auswanderung nach Amerika angeregt und überall, wo man mit ihm gleiche Gesinnungen hegte, mit der größten Begeisterung aufgenommen. Aber noch bevor dieselbe zur Ausführung kam, wurde S. auf einer verbotenen Conventikelversammlung in der Hoflößnitz von der Policei aufgehoben, den 8. Nov. 1837 seines Amts entsetzt und die Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Die Anklage führte sich namentlich auf folgende drei Punkte zurück: 1) unzüchtigen und unkeuschen Lebenswandel; 2) unredliche Verwaltung der pecuniairen Interessen der Gemeinde, und 3) vielfache Vernachlässigung seiner Amtspflichten in Bezug auf Kirche, Schule, Kranke und Sterbende. Als endlich im Herbste des Jahres 1838 die Auswanderung wirklich unternommen wurde, konnte S. erst nach Niederschlagung seiner Untersuchung durch königl. Ausspruch an derselben Theil nehmen. Von Bremen aus nahm er noch im Namen der auswandernden Gemeinden Abschied von den zurückgelassenen Freunden, und die Zahl der Auswanderer belief sich auf 700 Seelen, worunter 6 Geistliche und 10 Candidaten und Schullehrer. In Amerika wurde S. zu St.-Louis auf das feierlichste zum Bischof geweiht, und ihm zu Ehren sollte die in der neuen Ansiedelung zu erbauende Stadt Stephansburg genannt werden. Aber kurz nach der Ankunft daselbst wurde S. aufs Neue der schändlichsten Verbrechen angeklagt, und die Geistlichen Walther u.s.w. sahen sich genöthigt, sich von ihm als einem durch geheime Sünden der Wollust, der Untreue und Heuchelei Tiefgefallenen öffentlich loszusagen und ihn aus der Gemeinde auszustoßen. Auf die Colonie hatte dieses Schicksal S.'s eine äußerst entmuthigende Wirkung, und nur mit Mühe vermögen die übrigen Geistlichen, denen es an dem Ansehen S.'s gebricht, in derselben die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das angekaufte Land liegt 120 engl. oder 30 deutsche Meilen von St.-Louis in der Provinz Perry. Conty und enthält 19,000 Acker mit einem Flächenraum von 20.–30 engl. Meilen. Es hat mit Europa gleiches Klima, treffliches Wasser, fruchtbaren Boden und zwei große, schiffbare Ströme, den Missuri und den Missisippi, welche die Ansiedlung [287] mit St.-Louis und Neuorleans durch die Schiffahrt in bequeme Verbindung bringen. Bedenkt man aber, welche große Hindernisse der Urbarmachung eines mit Wald bedeckten Bodens entgegenstehen, so dürfte diese Colonie erst nach langer Zeit sich des in Europa geträumten Glücks zu erfreuen haben.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 287-288.
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