Organismus

[62] Organismus ist ein einheitliches, teleologisch (s. d.) bestimmtes und sich von innen heraus teleologisch bestimmendes, entwickelndes, auf Reize der Außenwelt reagierendes System von Triebkräften, deren jede einzelne im Dienste des Ganzen steht, wie auch das Ganze für die Partialkräfte (Organe) arbeitet. An sich ist der Organismus ein psychisches Kräftesystem, »von außen«, in objectiver Erscheinung, für die Naturwissenschaft als solche ein System physikalisch-chemischer Processe. Die Organismen sind besondere, compliciertere Formen, in welchen das allgemeine Leben (s. d.) auftritt, sich centralisiert. Organisches und Anorganisches sind wohl als Producte eines »Protoorganischen«, das nach der einen Richtung zum Organischen, nach der anderen zum Anorganischen wird, zu betrachten (s. Urzeugung). »Elementarorganismen« sind die »Zellen«. »Gesamtorganismen« sind nach manchen Sociologen (s. d.) die socialen Gemeinschaften. Verschiedenerseits wird die Welt (s. d.) als Universal-Organismus aufgefaßt.

Während die teleologisch-spiritualistische Weltanschauung den Organismen innere, zweckmäßig (zielstrebig) wirkende Kräfte zuschreibt (s. Leben, Seele), betrachtet die materialistische und (rein) mechanistische Naturauffassung den Organismus als bloßen Complex physikalisch-chemischer Processe, von welchen ein Teil vom Bewußtsein »begleitet« ist (s. Materialismus). Die Entstehung des Organischen anlangend, gibt es folgende Hypothesen: 1) Das Organische auf Erden ist ein besonderes Seinsproduct (eine besondere Schöpfung). 2) es stammt von fremden Himmelskörpern (kosmozoische Hypothese: DE MAILLET, RICHTER, MOHR, HELMHOLTZ, W. THOMSON, DU BOIS – REYMOND u. a.). 3) es stammt vom Urorganischen, welches dem Anorganischen vorangeht, das Anorganische ist Product des Organischen kosmorganische Hypothese: SCHELLING (s. unten), FECHNER (Ideen zur Schöpfungs- u. Entwicklungsgesch. S. 1, 43. PREYER, Naturwiss. Tats. u. Probl. S. 51 ff.). 4) es stammt vom Anorganischen (Hypothese der Urzeugung, s. d.). 5) es ist gleich ursprünglich wie das Anorganische (LIEBIG u. a.).

Nach LEIBNIZ sind die Organismen »natürliche Maschinen«, die bis in die kleinsten Teile Maschinen sind (Monadol. 64), Ansammlungen von Monaden (s. d.) unter der Leitung einer Seelenmonade. Nach KANT ist der Organismus ein materielles Wesen, welches »nur durch die Beziehung alles dessen, was in ihm enthalten ist, aufeinander als Zweck und Mittel möglich ist« (WW. IV, 493). Ein organisiertes Wesen ist ein solches, in welchem die Teile voneinander sowohl Ursache als Wirkung ihrer Form sind, wo jeder Teil durch alle übrigen und um dieser willen existiert (Krit. d. Urt. § 65). Es hat eine bildende Kraft in sich (ib.). Ein Organismus ist ein Wesen, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist (l. c. § 66). Die Organismen sind nicht rein mechanisch zu erklären (s. Leben). – Nach HILLEBRAND ist der Organismus die »wahrnehmbare Einheit mehrerer körperlicher Substanzen in ihrer selbstbildenden Wirklichkeit unter einer Lebenssubstanz, welche das bestimmende Princip jener Einheit ist« (Philos. d. Geist. I, 58). SCHELLING erklärt: »Der Grundcharakter der Organisation ist, daß sie aus dem Mechanismus gleichsam hinweggenommen, nicht nur als Ursache und Wirkung, sondern, weil sie beides zugleich von sich selbst ist, durch sich selbst besteht« (Syst. d. tr. Ideal. S.261). Das Anorganische ist nur Rest dessen, was wegen Hemmungen nicht organisch werden konnte. »Der Leib der Materie sind die einzelnen körperlichen Dinge, in welchen die Einheit ganz in die Vielheit und Ausdehnung verloren ist, und die deswegen als[62] unorganisch erscheinen« (Vorles. üb. d. Meth.3, 12, S. 267). Organisches und Anorganisches sind Glieder des Allorganismus (WW. I 3, 306. I 4, 305 f.. I 6, 467) STEFFENS erklärt: »Die wahre Natur ist im einzelnen wie im ganzen absolut organisiert« (Grdz. d. philos. Naturwiss. S. 27). »Ein anorganischer Körper ist nach außen different, nach innen indifferent. Ein organischer Körper ist umgekehrt nach innen different, nach außen indifferent« (l. c. S. 65). »Das Erwachen der Organisation ist nur aus dem Organismus der Erde im ganzen, wie im einzelnen, zu begreifen« (l. c. S. 129). »Die sichtbare leibliche Organisation enthält alle Potenzen der unsichtbaren, ist durchaus vegetativ und durchaus animalisch zugleich« (l. c.. 175. vg1. S. 177). Die »Zellentheorie« (SCHWANN, SCHLEIDEN) ist schon bei L. OKEN vorgebildet, nach welchem alle Organismen aus »Bläschen« ent- und bestehen. Das Organische stammt aus einem »Urschleim« (Die Zeugung 1805. Abr. d. Syst. d. Biol. 1806). J. J. WAGNER erklärt: »Der organische Mittelpunkt ist die relative Indifferenz, in welcher endliche Wesen das Ewige nachbilden« (Syst. d. Idealphilos. S. 31 ff). Nach CHR. KRAUSE ist organisch (»gliedlebig, gliedbaulich«) das, »dessen alle Teile unter sich und mit dem Ganzen wechselseitig bestimmt und verbunden sind« (Vorles. üb. d. Syst. S. 146. vgl. S. 58). Der Organismus ist ein »Gliedbau«. Es gibt auch einen »Gliedbau der geistigen Tätigkeiten« (Urb. d. Menschh.3, S. 51), auch »organische Kategorien« (Vorles. S. 328, 358, 416, 425). Nach BRANISS ist die Organisation »wesentlich ein Kampf der lebendigen Totalität der Materie mit der Tendenz ihrer Teile, in ihrer Besonderung als leblose zu beharren« (Syst. d. Met. S. 347). HEGEL erklärt: »Der erste Organismus... existiert nicht als Lebendiges,« nur als unmittelbare Totalität, als Erdkörper (Naturphilos. S. 430 ff.). »Die organische Individualität existiert als Subjectivität, insofern die eigene Äußerlichkeit der Gestalt zu Gliedern idealisiert ist, der Organismus in seinem Processe nach außen die selbstische Einheit in sich erhält« (l. c. S. 550 ff.). K. ROSENKRANZ erklärt: »Das Princip des geologischen Organismus ist die Selbstgestaltung. Dies Princip hebt sich im vegetabilischen Organismus zur Selbsterhaltung auf« (Syst. d. Wissensch. S. 333 ff.). Der tierische Organismus »gestaltet sich selbst, erhält sich selbst und empfindet sich selbst« (l. c. S. 342 ff.). Sind nach den Hegelianern die Organismen Momente (s. d.) der dialektischen Entwicklung der Idee (s. d.), so nach SCHOPENHAUER Objectivationen (s. d.) des Willens (s. d.). Nach PLANCK ist das Organische Product der Ausscheidung von »Concentrierungsacten« aus der allgemeinen »Concentrierungseinheit« einer Art Zeugung, Abknospung (Testam. ein. Deutsch. S. 233 ff.). Nach MAMIANI konnte das Organische aus Unorganischem nur durch geistige Potenzen erzeugt werden (Scuole Ital. XXVII, p. 315 ff.. XXVIII, p. 84 ff.). ULRICI definiert den Organismus als »ein System von Kräften und Stoffen, d.h. von Atomen (Molekülen) als Centralpunkten der allgemeinen physikalischen und chemischen Naturkräfte, welches nicht nur planmäßig angelegt und zusammengefügt (gegliedert) ist, sondern auch in seiner Bildung und Entwicklung wie in den Bewegungen und Tätigkeiten seiner Glieder von einer spontan wirkenden, in der Form der Zelle tätigen und einer durchgängigen Lebenskraft beherrscht, bestimmt und geleitet wird« (Leib u. Seele S. 64 f.). M. CARRIERE bemerkt: »Das ist das Wesen des Organismus, daß ihm seine Form nicht gleichgültig, nicht von außen angetan und aufgezwungen ist..., sondern daß sie nach eigenem Bildungsgesetz aus eigener Kraft entfaltet wird und sich im Wechsel der Stoffe erhält. der Lebenskeim ist Entelechie,[63] das heißt, er trägt sein Ziel in sich« (Sittl. Weltordn. S. 44). Der Organismus »bildet sich aus eigenem Antrieb seine Teile, seine Glieder von innen heraus« (l. c. S. 53). Nach E. L. FISCHER besteht der Organismus schon ursprünglich in einem eigenartigen Atom-System (Üb. d. Princip d. Organisat. 1883). CZOLBE hält die organische Form »für etwas Elementares oder Anfangsloses, Ewiges« (Neue Darstell. d. Sensual. 1855. Grenz. u. Urspr. d. menschl. Erk. S. V). Nach FECHNER haben sich Unorganisches und Organisches beide »in einem Zusammenhange aus etwas herausgebildet, was in seinem Urzustande weder mit dem Organischen noch Unorganischen rein vergleichbar ist« (Zend-Av. II, 46). Nach HELLENBACH ist der Organismus Erscheinung einer Seele (Der Individual. S. 112. s. Metaorganismus). Nach LEWES ist er »a more or less complex unity of organs« (Probl. III, 7 ff., 33 ff.. vgl. H. SPENCER, Princ. of Biology I). Nach DURAND DE GROOS ist der Organismus das Product des Widerstreits zwischen Ich und Nicht-Ich (Essais de physiol. philos. 1866). – Nach OSTWALD et der Organismus »wesentlich ein Complex von Energien« (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 319). E. HAECKEL versteht unter Organismen »alle jene Naturkörper, welche die eigentümlichen Bewegungserscheinungen des Lebens und namentlich ganz allgemein diejenigen der Entwicklung zeigen« (Allgem. Morphol. I, 112). Es besteht eine Urzeugung (l. c. S. 182. Anthropogen. S. 401). Nach E. v. HARTMANN ist das Wesen des Organismus »Steigerung der Form durch Wechsel des Stoffes« (Philos. d. Unbew.3, S. 411. l. c. II10, 213 ff.). Bei der Entstehung der Organismen müssen besondere Kräfte und Gesetze mitgewirkt haben, »nichtenergetische ordnende und leitende Kräfte«, »deren Wirkungsweise durch die Individualzwecke der zu schaffenden oder geschaffenen Organismen geregelt wurde und sich in der activen Anpassung an die jeweilig gegebenen äußeren Umstände bekundete«. Eine autogone Urzeugung (aus Anorganischem) ist nicht möglich gewesen, »weil höchst labile chemische Verbindungen nicht von selbst aus stabilen entstehen, weil die höchst complicierten Maschinenbedingungen, die zu solchen rückläufigen Energieumwandlungen nötig sind, noch weniger von selbst entstehen, weil die labilen chemischen Verbindungen in den Organismen individualisiert sind und weil schon die primitivsten Organismen eine differenzierte Structur besessen haben müssen, die ihnen Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung ermöglichte« (Die Gnosis Nr. 9, 1903, S. 10 f.). REINKE bezeichnet als wesentliche Eigenschaft des Organismus die Form (Gesetz der »Erhaltung der Form«, s. LASSON, Der Leib S. 68) (Einl. in. d. theoret. Biol. S. 38). Eigentümlich sind den Organismen »die zweckmäßige Organisation, die Fortpflanzung und die Intelligenz« (l. c. S. 55). Die Organismen gehorchen der causalen und zugleich einer finalen Notwendigkeit (l. c. S. 56). Eine besondere Form und Structur der organisierten Wesen bildet die Basis des Lebens (l. c. S. 57). Ergebnisse der Organisation sind die »Dominanten« (s. d.). WUNDT meint, »daß die erste Entstehung einfachster Lebensformen ein sehr allmählicher in verschiedenen Stufen sich vollziehender Proceß chemischer Synthese war, der im Zusammenhang mit der allmählich erfolgenden Änderung der äußeren, namentlich der Temperaturbedingungen erfolgte« (Syst. d. Philos.2, S. 507 ff). Die organische Zelle ist ein »Protoplasmamolecül«, dessen Teile sich morphologisch differenzieren (dagegen REINKE). Die (relative) Constanz der Zelle ist das »Ergebnis fortwährend stattfindender Zersetzungs- und Verbindungsvorgänge, Organisierungen und Desorganisierungen« (l. c. S. 513 ff.. Philos. Stud. V, 327 ff.. Log. II2 1, 569 ff). Der Organismus besteht in einem System von[64] »Selbstregulierungen«, in einer Verbindung zu einem einheitlichen Ganzen, in der Gliederung in Organe, zwischen welchen eine Arbeitsteilung besteht (Syst. d. Philos.2, S. 618). in diesem Sinne ist auch die Gesellschaft ein Organismus (s. Sociologie). NAHLOWSKY versteht unter Organismus »ein von innen heraus (d.h. aus einer Urzelle, einem Samenkeim) sich entwickelndes Naturwesen, welches in seiner äußern Structur eine bis in die kleinsten Teile herab sich fortsetzende, streng regelmäßige Gliederung und nicht minder auch in allen seinen sieh wechselseitig bedingenden und von gewissen Centralorganen regierten Teilfunctionen eine derartige Gesetzmäßigkeit dartut, daß dessen Gesamtexistenz (Leben genannt) nur aus dem zweckmäßigen Ineinandergreifen aller jener Teilfunctionen begriffen werden kann« (Grdz. zur Lehre von d. Gesellsch. S. 76 f.). Nach L. DILLES stellt der leibliche Organismus »die Erscheinung eines bestimmten Verhältnisses des Ich zu den (es afficierenden) Dingen an sich vor« (Weg zur Met. S. 158), er ist »bloßes Balancebild, d.h. ein Orientierungsmittel für das Ich behufs Erhaltung seiner Balance, d.h. behufs Erhaltung der Integrität des Ich in Bezug auf Wohl und Wehe« (l. c. S. 169). Vgl. LOTZE, Mikrok.. SIGWART, Log. II2, S. 238, 248, 254, 447 ff., 647 ff. – Vgl. Leben, Evolution, Differenzierung, Selection, Urzeugung, Vitalismus, Lebenskraft, Vererbung.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 62-65.
Lizenz:
Faksimiles:
62 | 63 | 64 | 65
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon