Antisemiten

[588] Antisemiten, die Gegner der Juden; Antisemitismus, Feindschaft gegen die Juden. Die antisemitische Bewegung, in Rußland, Rumänien, Österreich und Ungarn, auch im östlichen und mittlern Deutschland, also in den Ländern verbreitet, wo die Juden in größerer Zahl wohnen, allmählich aber auch nach andern Ländern übergreifend, ist durch den wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß der von den frühern Schranken befreiten jüdischen Bevölkerung veranlaßt und strebt danach, diese Schranken wieder auszurichten und die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu verdrängen oder ganz zu vertreiben. In Deutschland gab die Gründerzeit mit ihren verderblichen Nachwirkungen seit 1875 zunächst den Anstoß zu mehreren Schriften (von Glagau, Marr, Dühring u.a.; s. unten). Die Agitation im Volke begann 1878 durch den Berliner Hofprediger Stöcker (s. d.), der durch die Stiftung einer Christlich-sozialen Partei (s. d.) die von ihm gekennzeichneten verderblichen Wirkungen des jüdischen Bevölkerungselements bekämpfte. Ihm schlossen sich Liebermann v. Sonnenberg, Paul Förster, Erwin Bauer u.a. an, welche Vereine zur Bekämpfung des Judentums: die Antisemitenliga (1880), den Deutschen Volksverein (1881), den Deutschen (oder Sozialen) Reichsverein, gründeten und die »Berliner Bewegung« hervorriefen. Bei der Reichstagswahl 1881 erzielten die A. als besondere Partei in Berlin 843 Stimmen; mehr Stimmen (im ersten Wahlkreis: 6295) erhielt der dem Berliner konservativen Zentralkomitee (C. C. C., einer Vereinigung der Konservativen mit christlich-sozialen, zünftlerischen, staatssozialistischen und antisemitischen Parteigängern) angehörige Antisemit Liebermann. Ein Kongreß, durch Delegierte aus verschiedenen Landesteilen 18. und 19. Sept. 1881 zu Dresden abgehalten, schuf das erste Programm der Deutschen Reformpartei. Dieses Programm fordert, unter Einstehen für Kaiser und Reich und das verfassungsmäßige Recht der Bundesfürsten und -Staaten, hauptsächlich Durchdringung des Volks- und Rechtslebens mit dem lebendigen Geiste des Christentums. Nur christlich-deutsche Männer sollen in die gesetzgebenden Körperschaften gewählt und in Staats- wie Gemeindeämter berufen werden. Ferner werden gefordert: verschiedene Änderungen im Steuerwesen, Errichtung einer wirklich nationalen Reichsbank, Herstellung eines deutschen Staatsbürgerrechts, Rechtspflege nach christlich-germanischen Grundsätzen u.a., wodurch die Überwucherung des jüdischen Elements über das deutsch-christliche beseitigt und das praktische Christentum zur Geltung gebracht werden sollen. Die Partei siegte in Dresden 1884 über den Sozialdemokraten, unterlag aber.1887 dem Kartell. Im Frühjahr 1886 wurde eine Allgemeine deutsche antisemitische Vereinigung (mit dem Sitz in Kassel) begründet. Als erster Antisemit zog Böckel in den Reichstag; unter seiner Leitung gewann in Hessen wegen der Abhängigkeit der bäuerlichen Bevölkerung von jüdischen Händlern die antisemitische Bewegung eine solche Ausdehnung, daß 1890 fünf A. in den Reichstag gewählt wurden. Inzwischen hatte sich jedoch innerhalb der Vereinigung eine Spaltung vollzogen. Die konservative Richtung unter Liebermann und Förster bildete 1889 in Bochum die Deutschsoziale antisemitische Partei, stellte ein Programm auf, das neben vielen andern Forderungen, die, abgesehen von geringfügigen Abwandlungen, von den alten staatserhaltenden Parteien ebenfalls gestellt zu werden pflegen, die Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden und das Verbot der Einwanderung fremder Juden verlangt. Das »ergänzte Bochumer Programm« derselben Partei fügt diesen Wünschen andre hinzu und schließt damit: »Als ihr Ziel in der Judenfrage faßt die Deutsch-soziale Partei die Aufhebung der Gleichberechtigung und die Stellung der Juden unter Fremdenrecht in Deutschland ins Auge.« – Dagegen bildete die demokratische Richtung unter Böckel 1890 die Antisemitische Volkspartei. Sie erstrebt die Aufhebung der Judenemanzipation, Stellung der Juden unter Fremdengesetze und Schaffung einer gesunden sozialen Gesetzgebung; die soziale Lage sei zu bessern durch eine Arbeiterschutzgesetzgebung auf internationaler Grundlage. Die übrigen Forderungen decken sich meist mit denen der vorherigen Programme. Die Vereine der Deutschen Reformpartei vereinigten sich mit der Antisemitischen Volkspartei, die vor den Wahlen 1893 wieder den Namen Deutsche Reformpartei annahm und 11 Sitze in Sachsen und Hessen gewann. Auf einer Delegiertenkonferenz zu Eisenach 7. Okt. 1894 vereinigten sich Deutsche Reformpartei. Deutsch-Soziale und Norddeutsche Vereinigung zur Deutsch-sozialen Reformpartei (s. d.) mit einem in Erfurt 20. u. 21. Okt. 1895 beschlossenen Programm, dessen Hauptwunsch (außer denen nach einer Erweiterung des Wahlrechts zur Wahlpflicht, einer Einführung der konfessionellen Eidesformel etc.) die Ausstellung und dauernde Führung einer Statistik über die in Deutschland lebenden Personen jüdischen Stammes war. Innerhalb der Deutsch-sozialen Reformpartei entstanden 1900 Streitigkeiten zwischen Parteileitung und Fraktion; Liebermann v. Sonnenberg trat beim Magdeburger Parteitag im September 1900 mit andern, konservativ Gesinnten aus der Reformpartei aus und gründete sofort die Neue deutsche soziale Partei (s. d.). Der frühere Berliner Rektor Ahlwardt, der als antisemitischer Agitator besonders die Rassenfrage betont hatte, und Böckel stellten wenige Wochen darauf die Antisemitische Volkspartei wieder her (s. Karte »Reichstagswahlen«). 1891 wurde in Berlin ein Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus gegründet.

In Österreich, wo die Zahl der Juden noch größer, ihr Einfluß noch bedeutender ist, stellten sich Schönerer und (später) Lueger an die Spitze der Bewegung, die besonders in Wien zahlreiche Anhänger hatte und bei den Reichsratswahlen 1891 in Niederösterreich 13 Anhänger durchbrachte. In Ungarn steigerte sich infolge des Tisza-Eszlarer Prozesses wegen des Verschwindens der Esther Solymossi die antisemitische Aufregung. Auch in Wien wurde 1891 ein Vereingegenden Antisemitismus gegründet. In Frankreich erschien das antisemitische Werk von E. Drumont: »La France juive« (Par. 1886). In Rußland gaben Judenverfolgungen in Südrußland und Polen, welche die bäuerliche Bevölkerung 1881 veranstaltete, der Regierung den Anlaß, mit umfassenden Maßregeln gegen die Juden, denen man die Schuld an dem wirtschaftlichen Elende der Bauern beimaß, einzuschreiten und sie namentlich aus den mittlern und östlichen Provinzen, wo sie sich im Laufe der Jahre ausgebreitet hatten, und aus den Städten zu verdrängen,[588] so daß viele durch völlige Entziehung ihres Lebensunterhalts zur Auswanderung genötigt wurden. Vgl. Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin und in Deutschland (4. Aufl., Leipz. 1876–77, 2 Tle.); Marr, Der Sieg des Judentums über das Germanentum (11. Aufl., Bern 1879); Dühring, Die Judenfrage (4. Aufl., Karlsruhe 1892); Stöcker, Das moderne Judentum in Deutschland (5. Aufl., Berl. 1880); v. d. Brüggen, Rußland und die Juden (Leipz. 1882); Lehnhardt, Die antisemitische Bewegung in Deutschland (Zürich 1884); Liebermann von Sonnenberg, Beiträge zur Geschichte der antisemitischen Bewegung vom J. 1880–1885 (Berl. 1885); G. Winter, Der Antisemitismus in Deutschland (Magdeb. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 588-589.
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