Niederösterreich

[665] Niederösterreich (Österreich unter der Enns, hierzu Karte »Niederösterreich«), Erzherzogtum und österreich. Kronland, bildet mit Oberösterreich (s. d.) das Stammland des österreichischen Kaiserstaates, grenzt im Norden an Böhmen und Mähren, im O. an Ungarn, von dem es durch die March und Leitha getrennt wird, im W. an Oberösterreich, von diesem durch die Enns geschieden, und an Böhmen und hat ein Areal von 19,824 qkm (390,04 QM.). Der Lauf der Donau teilt das Land in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Den südlich von der Donau gelegenen Teil des Landes erfüllen die Österreichischen Alpen mit der Schneeberggruppe (2075 m), den Höllensteiner Alpen (1769 m), den Hohenberger Alpen (1399 m), der Thermengruppe (1222 m) und dem Wiener Wald (893 m). Östlich von der Einsattelung des Semmering (980 m) erhebt sich als Eckpfeiler der Cetischen Alpen der Wechsel (1738 m), und an der ungarischen Grenze zieht sich das Leithagebirge (480 m) hin. Nördlich von der Donau breitet sich das granitische Berg- und Hügelland der mährischösterreichischen Terrasse aus, die im Weinsberger Wald 1039 m, im Paulstein 1060 m erreicht. Weiter östlich senkt sich der Gföhlerwald (722 m) und der Manhartsberg (536 m) zur Donau ab. Die letzten südöstlichen Ausläufer dieses Berglandes enden mit dem Bisamberg (360 m) vor Wien, gegenüber dem Kahlengebirge. Das Haupttal des Landes ist das der Donau, das sich zwischen den zwei Becken von Tulln und Wien ausbreitet. Alle übrigen Flüsse, mit Ausnahme der Lainsitz im NW., die der Moldau zueilt, ergießen sich in die Donau. Aus dem nördlichen Hochland rinnen ab: Krems, Kamp und Thaya. Letztere ergießt sich in die March, die aus dem Hügelland die Zaya[665] empfängt und Grenzfluß ist. Aus den Alpen kommen Enns, Ybbs, Erlaf, Traisen und östlich vom Wiener Wald die parallelen Flüßchen: Schwechat, Fischa, Leitha. Außer der Donau sind nur die Enns und die March schiffbar. Unter den wenigen kleinen Alpenseen sind der Erlafsee an der steirischen Grenze und der Lunzer See bemerkenswert. Das Klima ist im allgemeinen gemäßigt und gesund, besonders im Donautal und im Hügelland, obwohl großen Temperaturwechseln ausgesetzt. Unter den Mineralquellen sind die warmen Schwefelquellen von Baden die berühmtesten; auch die eisenhaltigen Quellen zu Pirawarth, die Schwefelquellen von Deutsch-Altenburg und die in differente Therme von Vöslau werden viel besucht.

Die Bevölkerung betrug 1890: 2,661,799 und 1900: 3,100,493 Seelen. Auf 1 qkm kommen (1900) 156 Bewohner, die größte Volksdichtigkeit unter allen österreichischen Kronländern. Die Bewohner sind überwiegend Deutsche (95 Proz.); doch sind in Wien auch die andern Nationalitäten vertreten, darunter hauptsächlich die Tschechen (4,7 Proz.). Mit Ausnahme von 65,460 Evangelischen, 4404 nichtunierten Griechen, 157,278 Juden und 5818 Angehörigen andrer Konfessionen bekennt sich die Bevölkerung zur römisch-katholischen Religion. Ihre Verteilung auf die politischen Bezirke ergibt sich aus folgender Übersicht:

Tabelle

Die Urproduktion des Landes ist neben der Industrie von geringerer Bedeutung, ihr Ertrag genügt dem Bedürfnis der starken Bevölkerung nicht. Von der Bodenfläche sind 96,4 Proz. produktiv; auf Ackerland kommen 43,4 Proz., auf Weinland 1,9 Proz., auf Gärten und Wiesen 13,2 Proz., auf Weiden und Alpen 3,6 Proz. und auf Waldungen 34,3 Proz. Die wichtigsten Bodenprodukte sind: Getreide und zwar Weizen (1904: 1,139.421 metr. Ztr.), Roggen (3,112,234 metr. Ztr.), Gerste (1,157,755 metr. Ztr.), Hafer (1,421,700 metr. Ztr.), ferner Mais (155,066 metr. Ztr.), Hülsenfrüchte (101,244 metr.), Kartoffeln (2,882,441 metr. Ztr.), Zuckerrüben (1,253,426 metr. Ztr.), Raps (3723 metr. Ztr.), Flachs (10,258 metr. Ztr.), Zichorie (12,688 metr. Ztr.), Futterrüben (3,276,668 metr. Ztr.), Kraut (224,413 metr. Ztr.). Von Wichtigkeit ist der Weinbau (1,097,784 hl), namentlich liefern die sonnigen Ausläufer des Wiener Waldes gesuchte Weinsorten, während die Hügellandschaften unter dem Manhartsberg sogen. Landwein (geringere Sorte) liefern. Der Viehstand umfaßte 1900: 141,101 Pferde, 606,938 Rinder, 80,379 Ziegen, 61,490 Schafe und 530,231 Schweine. Der Bergbau ist nicht von großer Bedeutung; er liefert Steinkohlen (1904: 624,919 metr. Ztr.) und Braunkohlen (43,970 metr. Ztr.) im Gebiet der Voralpen, dann Graphit (7131 metr. Ztr.) bei Mühldorf. Hinsichtlich der Industrie nimmt N. neben Böhmen und Mähren die erste Stelle unter den Kronländern der Monarchie ein. Der Zentralpunkt dieser reichgestalteten gewerblichen Tätigkeit ist Wien (s. d.), doch ist auch auf dem flachen Lande die Industrie von hoher Bedeutung. 1902 bestanden in N. 100,504 Erzeugungsgewerbe mit 567,184 tätigen Personen, nebst 43,872 Heimarbeitern. Die Zahl der Motorenbetriebe belief sich auf 6552 mit 227,559 Pferdestärken. Die Fabrikindustrie umfaßt die Erzeugung von Metallen und Metallwaren aller Art, die Maschinenindustrie einschließlich der Fabrikation von Waggons, Wagen, Instrumenten, Beleuchtungs- und Wasserleitungsgegenständen; die Industrie in Steinen, Erden, Ton und Glas; die Industrie in Holz, Bein, Kautschuk; die Lederindustrie; die Textilindustrie, insbes. die Seidenweberei, Kammgarn- und Baumwollspinnerei, Baumwollweberei und -Druckerei, Erzeugung von Teppichen, Bändern, Wirkwaren, Vorhängen, Schnüren und Borten, die Hanf- und Jutemanufaktur, Färberei und Appretur; die Bekleidungs- und Putzwarenindustrie; die Papierindustrie; die Industrie in Nahrungs- und Genußmitteln, insbes. den Mühlenbetrieb, die Fabrikation von Zucker, Schokolade, Kanditen, die Bierbrauerei, Branntweinbrennerei und Tabakfabrikation; die chemische Industrie; das Bau- und Kunstgewerbe. Der Handel ist in N. sehr bedeutend, da Wien (s. d.) der Zentralpunkt des ganzen österreichischen Handelsverkehrs ist. 1902 bestanden in N. 69,989 Handels- und Verkehrsbetriebe mit 175,993 tätigen Personen. Zur Förderung des Handels dienen 13,161 km Landstraßen, 2275 km Eisenbahnen, 319 km Wasserstraßen (wovon 202 km von Dampfschiffen befahren werden). An Unterrichtsanstalten besitzt N. außer der Universität, der Technischen Hochschule, der Hochschule für Bodenkultur, der Akademie der bildenden Künste und der Exportakademie, sämtlich in Wien, 5 theologische Lehranstalten, 32 Gymnasien und Realgymnasien, 19 Realschulen, 6 Lehrer- und 8 Lehrerinnenbildungsanstalten, 38 Handelsschulen, 5 Staatsgewerbeschulen, 11 Fachschulen für einzelne gewerbliche Zweige, 225 gewerbliche Fortbildungsschulen, 3 landwirtschaftliche Mittelschulen, 16 niedere land- und forstwirtschaftliche Schulen, eine Tierarzneischule, eine Hebammenschule etc., endlich 1899 Volks- u. Bürgerschulen, die von 97,5 Proz. der schulpflichtigen Kinder besucht werden.

Der niederösterreichische Landtag besteht aus dem Fürsterzbischof von Wien, dem Bischof von St. Pölten, dem Rektor der Wiener Universität, dann aus 75 gewählten Mitgliedern (16 Abgeordneten des Großgrundbesitzes, 34 der Städte und Markte, 4 der Handels- und Gewerbekammer, 21 der Landgemeinden). In das Abgeordnetenhaus des Reichsrates entsendet das Land 46 Abgeordnete. Die politische Verwaltung wird von der Statthalterei, den 23 Bezirkshauptmannschaften und den Magistraten der drei Städte[666] mit eignem Statut sowie der Polizeidirektion in Wien besorgt. Für die Rechtspflege bestehen in erster Instanz das Landesgericht und das Handelsgericht in Wien, 4 Kreis- und 89 Bezirksgerichte, in zweiter Instanz das Oberlandesgericht in Wien (auch für Oberösterreich und Salzburg). Für die staatliche Finanzverwaltung bestehen die Finanzlandesdirektion und Finanzprokuratur, ferner 4 Finanzbezirksdirektionen. Andre Behörden sind die Post- und Telegraphendirektion, die Staatsbahndirektion, die Forst- und Domänendirektion, die Berghauptmannschaft, endlich das zweite Korpskommando in Wien.

Das Landeswappen (s. Tafel »Österreichisch-Ungarische Länderwappen«, Fig. 3) ist ein blauer, mit dem Erzherzogshut bedeckter Schild mit fünf goldenen Adlern. Die Landesfarben sind Blau und Gelb.

Vgl. »Topographie von N.« (hrsg. vom Verein für Landeskunde, Wien 1871 ff., noch nicht abgeschlossen); M. A. Becker, Niederösterreichische Landschaften (das. 1879); Umlauft, Das Erzherzogtum Österreich (2. Aufl., das. 1893); »Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild«, Bd. 1: Wien, und Bd. 4: Niederösterreich (das. 1886 u. 1889); »Gemeindelexikon von N.«, bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dez. 1900 (von der k. k. statistischen Zentralkommission, das. 1904); »Jahrbuch für die Landeskunde von N.« (das., seit 1902); »Jahrbuch für die niederösterreichische Landesverwaltung« (das. 1905); die »Mitteilungen der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer« (das.); »Niederösterreichischer Amtskalender« (alljährlich); Rabl, Illustrierter Führer durch N. (2. Aufl., das. 1898); Grefe, Altösterreich (unter der Enns). Abbildungen von merkwürdigen alten Bauwerken etc. (mit 96 Tafeln, das. 1899 ff.); Petkovšek, Die Erdgeschichte Niederösterreichs (das. 1899); Hann, Klimatographie von N. (das. 1904); Allgayer, Die administrative Gebietseinteilung Niederösterreichs seit 1868 (das. 1905). Zur Geschichte (s. auch Österreichisch-Ungarische Monarchie) vgl. »Niederösterreichisches Urkundenbuch« (Wien 1891–1901, Bd. 1 u. 2); Vancsa, Geschichte Ober- und Niederösterreichs (Gotha 1905, Bd. 1); Wiedemann, Geschichte der Reformation und Gegenreformation im Lande unter der Enns (Prag 1879–86, 5 Bde.); Bibl, Die Einführung der katholischen Gegenreformation in N. (Innsbr. 1900) und Die Restauration der niederösterreichischen Landesverfassung unter Leopold II. (das. 1902); Kerschbaumer, Die Wahrzeichen Niederösterreichs (2. Aufl., Wien 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 665-667.
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