Erfindung

[32] Erfindung (hierzu Textbeilage »Die wichtigsten Erfindungen«), die schöpferische Tätigkeit des Menschen, die sich in der Hervorbringung bisher nicht vorhanden gewesener Gegenstände, in der Ausarbeitung neuer Arbeitsmethoden äußert. Der Erfinder konstruiert eine neue Maschine, gibt ein neues Verfahren zur Herstellung eines Stoffes, eine neue Rechenmethode, wie die Logarithmenrechnung, ein neues Versmaß, eine neue Unterrichtsmethode an. Die E. steht in einem gewissen Gegensatz zur Entdeckung (s.d.), die das Vorhandensein bisher nicht bekannter Gegenstände nachweist. Die Entdeckung eines chemischen Elements, wie z. B. des Chlors durch Scheele, und die E. einer Maschine lassen den Unterschied zwischen beiden Tätigkeiten deutlich erkennen, während sich derselbe verwischt, wenn man z. B. erwägt, daß das von Wöhler in der Tonerde entdeckte Metall, das Aluminium, nur für die Wissenschaft Bedeutung besaß, bis Sainte-Claire Deville eine Methode erfand, das Aluminium aus der Tonerde so billig herzustellen, daß an eine technische Verwendung gedacht werden konnte. Entdeckungen und Erfindungen gehen oft bei technischer Tätigkeit Hand in Hand und vereinigen sich zur Erzielung des Resultats. Entdeckungen sind häufiger als Erfindungen das Ergebnis des Zufalls, und große Entdeckungen fielen bisweilen wie Gaben des Glückes dem Entdecker ohne Anstrengung, ja selbst dann zu, wenn er beim Suchen nach einem Ziel von völlig falschen Voraussetzungen ausging. Erfindungen sind dagegen häufiger das Resultat großer Anstrengungen, intelligenter Benutzung von Entdeckungen und geistreicher Beobachtungen und Kombinationen. Immerhin gelingt dem minder Kundigen oft eine E., um die sich der Fachgelehrte auch bei großer Intelligenz und Energie vergeblich bemüht. Man kann von einer besondern erfinderischen Kraft sprechen, die nur bei wenigen Menschen in erheblichem Maße vorkommt. Es ist klar, daß eine große Reihe von Erfindungen dem Menschen gelingen mußte, sobald er sich über das Tier zu erheben begann; ja, die Tätigkeit des Tieres mag oft genug dem Menschen als Vorbild gedient haben, und sehr viel, wie z. B. die Abscheidung von Metallen aus ihren Erzen, ist dem Zufall zu verdanken. Als man die beobachtete Erscheinung verfolgte und primitive Apparate erfand, um den Prozeß besser zu beherrschen, mußte man auch glasartige Schlacken erhalten, welche die Anregung zu Bemühungen in anderer Richtung gaben. Großartige Erfindungen gehören in diese Kategorie, der man auch die wichtigsten Errungenschaften zuzählen kann, die auf rein empirischer Basis gemacht wurden, wie z. B. die E. der Holzschneidekunst, der Kupferstechkunst und der Buchdruckerkunst. Ganz anders gestalteten sich die Erfindungen, sobald man anfing, die Wissenschaft als Führerin zu benutzen und bewußt Naturgesetze für die Praxis zu verwerten. Für die ältere Zeit sind wir nicht mehr sicher im stande, überall zu unterscheiden, wo eine solche Tätigkeit vorlag oder der Zufall sein Spiel trieb (Entdeckung des Mikroskops, des Fernrohrs etc.); aber schon die E. des Barometers, der Luftpumpe, der Pendeluhr waren Früchte wissenschaftlicher Tätigkeit, und wenn wir im 18. und vollends im 19. Jahrh. die Erfindungen sich häufen sehen, so ist dies teils auf das rapide Fortschreiten der Wissenschaften, teils aber auch auf die immer siegreicher vordringende Einsicht, daß auf diesem Gebiet die größten Erfolge durch Benutzung der Wissenschaft zu erreichen sind, zurückzuführen. Die moderne Chemie stellt sich als Hauptaufgabe die Erforschung der Konstitution der Körper, und die Einsicht, die sie hierbei gewann, verwertete sie in glücklichster Weise zur künstlichen Darstellung von Körpern, die bisher nur als Naturprodukte bekannt gewesen waren. So gelang die künstliche Darstellung des Alizarins und des Indigos aus Teerbestandteilen als das Resultat strengsten wissenschaftlichen Denkens, und es unterliegt keinem Zweifel, daß auch die Darstellung von Chinin, Morphium etc. gelingen wird. Diese Art des Erfindens ist auch auf die Verbesserungen alter Erfindungen vielfach angewendet worden, und wenn heute die von Watt erfundene Dampfmaschine eine so vollkommene Gestalt erreicht hat, so ist dies wesentlich der wissenschaftlichen Tätigkeit der Ingenieure zu danken. Die Entdeckung des Elektromagnetismus führte zur E. des Telegraphen und der Dynamomaschine. Die ganze Elektrotechnik mit der Galvanoplastik ruht auf wissenschaftlicher Basis, und ebenso hat sich die Photographie an der Hand der Wissenschaft entwickelt. Das Maschinenwesen verdankt seine Erfindungen wesentlich dem Streben, Menschenkraft zu sparen und mit größerer Kraftentfaltung zu arbeiten, als bei Anwendung von Menschen- und Tierkraft möglich ist. Man suchte nach Motoren, die unter bestimmten Verhältnissen der Dampfmaschine vorzuziehen seien, und erfand unter andern die Turbinen, die Heißluftmaschine, die Gaskraftmaschine, dann aber die zahlreichen Arbeitsmaschinen, wie die Spinnmaschine und den mechanischen Webstuhl, die Nähmaschine, ferner die Säe- und Dreschmaschine und die Mähmaschine, die Hobelmaschine und viele ähnliche, durch welche die gesamte technische Tätigkeit eine andre Gestalt gewonnen hat. Auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse haben den größten Einfluß auf die Erfindungen ausgeübt. Die Befreiung der Gewerbe von alten Fesseln, die Beförderung des Gedanken- und Güteraustausches durch Eisenbahnen und Telegraphen, der erleichterte persönliche Verkehr, die Hebung der Schulen und die Gründung von Fachschulen, namentlich auch die Patentgesetze, die den Erfindern die Früchte ihrer Arbeit zu sichern suchen,[32] haben wesentlich dazu beigetragen, daß in unsrer Zeit eine E. sich an die andre reiht und nach einmal gegebenem Anstoß schnell eine eminente Entwickelung auf allen Gebieten sichtbar wird. Daß dabei der Industrialismus auch taube Blüten treibt und sehr unerquickliche Erscheinungen hervorbringt, liegt in der Natur der Sache. Staatlich geschützt ist eine E. erst dann, wenn sie als solche vom Staat anerkannt und durch Patent (s.d.) geschützt wurde. Patentiert aber kann nur eine E. im Sinne des Patentgesetzes werden, d. h. eine zum technischen Ausdruck gebrachte Ideenschöpfung des Menschengeistes, die der Natur eine neue Seite abgewinnt und dadurch mit Erfolg darauf abzielt, durch Benutzung von Naturkräften menschliche Postulate zu erfüllen. Eine Übersicht der wichtigsten Erfindungen enthält die Textbeilage. Vgl. Feldhaus, Lexikon der Erfindungen und Entdeckungen (Heidelb. 1903); ferner Artikel »Patent« und die Literatur bei Artikel »Technologie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 32-33.
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