Thukydĭdes

[509] Thukydĭdes, 1) athen. Staatsmann, Sohn des Melesias, vereinigte nach Kimons, seines Schwiegervaters, Tod (449 v. Chr.) als Führer der konservativen Partei gegen Perikles alle seine Gegner, war aber, obwohl er durch seinen uneigennützigen Charakter und seine Rednergabe viele Anhänger gewann, doch nicht stark genug, um ihn zu stürzen, und wurde 444 durch den Ostrakismus verbannt.

2) Der größte Geschichtschreiber des Altertums, um 460–400 v. Chr., aus dem attischen Gau Halimūs, Sohn des Oloros, aus begüterter, hochangesehener Familie. Über sein Leben ist nur wenig Sicheres bekannt. Weil er 424 als Admiral zum Entsatz des von den Spartanern belagerten Amphipolis zu spät kam, wurde er wegen Hochverrats mit Verbannung bestraft, die er teils auf seinen Besitzungen in Thrakien, teils am Hofe des Archelaos von Mazedonien, teils, wie es scheint, auf Reisen zubrachte, und wurde erst am Ende des Peloponnesischen Krieges, 404, nach Athen zurückberufen. Nicht lange darauf soll er seinen Tod durch Mörderhand gefunden haben. Ein jähes Ende läßt der unfertige Zustand seines Werkes über den Peloponnesischen Krieg vermuten, das mitten im Kriege mit dem Jahre 411 abbricht, und dessen letztes (8.) Buch nur skizzenhaft ist. Das Vorhandene wurde später von Xenophon und Theopomp fortgesetzt. Begonnen hatte er das Werk gleich mit Beginn des Krieges in der Voraussicht von dessen Bedeutung und während seiner Verbannung, die Gelegenheit zur ruhigen Beobachtung der Ereignisse und zur Feststellung der Wahrheit durch Erkundigungen bei beiden Parteien bot, weitergeführt. Es besteht aus zwei zu verschiedenen Zeiten entstandenen Teilen: einer Geschichte des zehnjährigen oder Archidamischen Krieges (431–421) und einer nach seiner Rückberufung begonnenen Fortsetzung, welche die weitern Ereignisse bis 404 darstellen sollte. T. ist der erste kritische Historiker, zugleich der erste namhafte attische Prosaiker. Seine ausgesprochene Absicht war, mit der Geschichte des Peloponnesischen Krieges einen »Besitz für alle Zeit« κτῆμα ἐς ἀεί, nicht ein Prunkstück zum augenblicklichen »Anhören« zu schaffen; das Ziel erreichte er, indem er die Ereignisse auf Grund sorgfältiger, mit gewissenhafter Kritik geführter Ermittelungen und tiefer Einsicht in Ursachen und Zusammenhang mit unerschütterlicher Wahrheitsliebe und Unparteilichkeit darstellte. Die eingeflochtenen Reden, keine rhetorischen Schaustücke, dienen dem Zwecke, die Motive der Handlungen zu entwickeln und die Gesinnungen der Personen darzulegen, und zeichnen sich durch Gedankentiefe und -Reichtum aus. Bewundernswert ist die Kunst der anschaulichen Schilderung, wie in der Beschreibung der athenischen Pest und der Darstellung des sizilischen Feldzuges, und der scharfen Charakteristik hervorragender Persönlichkeiten. Allerdings erzeugt die streng annalistische Anordnung des Stoffes eine kunstlose Einförmigkeit, die zwar die Chronologie sichert, aber die Übersichtlichkeit zuweilen erschwert und Zusammengehöriges auseinanderreißt. Der Stil ist ernst und erhaben, oft hart und spröde, mit altertümlichen und poetischen Ausdrücken durchsetzt, oft bis zur Dunkelheit gedrängt, namentlich in den Reden, die bei dem Streben, mit wenigen Worten möglichst viel zu sagen, zu den schwierigsten Stücken der griechischen Literatur gehören. Ausgaben von Poppo (Leipz. 1821–40, 11 Bde.; kleinere Ausgabe neu besorgt von Stahl, das. 1883, 4 Bde.), Bekker (Berl. 1821, 3 Bde.), Hude (Leipz. 1898–1901, 2 Bde.; kleine Ausgabe, das. 1901), Krüger (3. Aufl., Berl. 1866, 2 Bde.), Classen-Steup (4. Aufl., das. 1897 ff.), die beiden letzten mit gutem Kommentar, u. a. Übersetzungen von Heilmann (Lemgo 1883), Campe (Stuttg. 1856–57, 2 Bde.) und Wahrmund (2. Aufl., das. 1867, 2 Bde.). Lexikon von Bétant (Genf 1843), Index von Essen (Berl. 1887). Antike Büsten des T. befinden sich in Neapel (Doppelherme, mit Herodot) und zu Holkham Hall in England. Vgl. Krüger, Untersuchungen über das Leben des T. (Berl. 1832); Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des T. (Götting. 1842); Welzhofer, T. und sein Geschichtswerk (Münch. 1878); Girard, Essai sur T. (2. Aufl., Par. 1884); A. Kirchhoff, T. und sein Urkundenmaterial (Berl. 1895); Bruns, Das literarische Porträt der Griechen (das. 1896); Michaelis, Die Bildnisse des T. (Straßb. 1877, Programm).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 509.
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