Belagerungszustand

[582] Belagerungszustand (Belagerungsstand, franz. État de siége), eine Art moderner Militärdiktatur, bestehend in der Übertragung der gesamten öffentlichen Autorität auf die Militärbehörden, die zugleich mit außerordentlichen Vollmachten bekleidet werden. Ursprünglich nur auf eine eigentliche Belagerung berechnet, wurde der B. auch auf andre Verhältnisse übertragen. So wurde z. B. im vergangenen Jahrhundert der B. in verschiedenen Staaten wiederholt zur Unterdrückung von revolutionären Versuchen verfügt, namentlich auch in Deutschland 1848 und 1849., insbes. nach dem badischen Aufstand, ebenso von den Österreichern 1878 in Bosnien. Auch wurden während des Krieges 1870/71 einzelne Bezirke in Deutschland in B. erklärt. Nach der deutschen Reichsverfassung (Artikel 68) kann der Kaiser, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiet bedroht ist, jeden Teil desselben, Bayern ausgenommen, in Kriegszustand erklären. Dabei soll das preußische Gesetz vom 4. Juni 1851 über den B. maßgebend sein. Die Erklärung des Belagerungszustandes geschieht durch öffentlichen Ausruf bei Trommelschlag oder Trompetenschall am Erklärungsorte, durch Mitteilung an die Gemeindebehörde, durch Anschlag an öffentlichen Plätzen und durch öffentliche Blätter. Die vollziehende Gewalt geht alsdann an die Militärbefehlshaber über, deren Anordnungen die Zivil- und die Kommunalbehörden Folge zu leisten haben. Gleichzeitig können auch das freie Vereins- und Versammlungsrecht, das Recht, daß niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden darf, die Freiheit der Presse, die Rechte, die sich auf Unverletzlichkeit der Wohnung und die persönliche Freiheit beziehen, für die Dauer des Ausnahmezustandes suspendiert werden, und es hängt lediglich von dem Ermessen des kommandierenden Militärbefehlshabers ab, welche Beschränkungen er an die Stelle der hierüber sonst geltenden Bestimmungen treten lassen will. Hält er oder das Staatsministerium es für nötig, die ordentlichen Gerichte zu suspendieren, so treten an deren Stelle die Kriegsgerichte, die namentlich die Verbrechen des Aufruhrs, Hochverrats, Landesverrats, der tätlichen Widersetzung, der Meuterei, der Plünderung, der Erpressung, der Verleitung der Soldaten zum Ungehorsam oder zu Vergehen gegen die militärische Zucht und Ordnung zur Untersuchung und Bestrafung überwiesen erhalten. Die Kriegsgerichte werden aus Offizieren und Zivilrichtern zusammengesetzt; in eingeschlossenen Festungen können im Notfall an Stelle der Zivilrichter selbst Kommunalbeamte dazu genommen werden. Das Verfahren ist ein sehr summarisches, das sogen. standrechtliche (s. Standgericht). Die Verhandlungen sind öffentlich und mündlich, und der Beschuldigte kann sich eines Verteidigers bedienen. Der Beschuldigte wird aufgefordert, sich über die ihm zur Last gelegte Tat zu erklären, und wenn er sie bestreitet, so wird sogleich zur Aufnahme des Tatbestandes durch Erhebung der vorliegenden Beweise geschritten. Darauf folgt sofort in nichtöffentlicher Beratung die Fassung des Urteilsspruchs, gegen den kein Rechtsmittel zulässig ist; nur die auf Todesstrafe lautenden Erkenntnisse unterliegen in Friedenszeiten der Bestätigung von seiten des kommandierenden Generals der Provinz. Alle Strafen werden binnen 24 Stunden nach Verkündigung des Erkenntnisses vollzogen, Todesstrafen in gleicher Zeit nach der erfolgten Bestätigung des Befehlshabers. Die letztern werden durch Erschießen vollstreckt. Ein Reichsgesetz über den B. ist durch Artikel 68 der Reichsverfassung vorgesehen, aber noch nicht erlassen. In Österreich fehlt ein Gesetz über den B.; das Gesetz vom 20. Mai 1869 spricht nur für die Kriegszeit eine Erweiterung der Kompetenz der Militärgerichte aus. Als sogen. kleiner B. wurden die infolge des Sozialistengesetzes über gewisse Bezirke verhängten Ausnahmemaßregeln bezeichnet (s. Sozialdemokratie). Vgl. Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S. 471 ff. (Berl. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 582.
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