Improvisation

[783] Improvisation (franz.), die Kunst, etwas ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif, zuwege zu bringen; im engern Sinne die künstlerische Produktion, deren Gegenstand nicht vorher schon irgendwie, auch nicht im Innern des Künstlers, fertig vorlag, sondern erst im Augenblick der äußern Verwirklichung vom Künstler konzipiert und innerlich ausgestaltet wird. Reynolds war der erste, der von I. auf dem Gebiete der Malerei sprach und darunter den raschen, unvorbereiteten Entwurf eines Gemäldes verstand. Hauptgebiete der I. sind die Musik, die schauspielerische Darstellung (Rollenimprovisation, d. h. unvorbereitete Darstellung einer Rolle) und vor allem die Poesie. Man findet Improvisatoren am häufigsten unter phantasiereichen Völkern, namentlich unter den Bewohnern südlicher Himmelsstriche, bei gebildeten, aber auch bei noch ganz ungebildeten Völkerstämmen. Bei den Römern zeichnete sich, nach Ciceros Mitteilung, der Dichter Archias durch Leistungen dieser Art aus. In der neuern Zeit ist die I. zuerst in Spanien und Italien aufgeblüht. Im 15. Jahrh. (weiter reichen die Nachrichten nicht zurück) wurde sie in Italien allgemein unter den Bürgern und an den Höfen geübt. Lorenzo de Medici und sein Sohn Piero leisteten Vorzügliches darin. Berühmt waren ferner Serafino aus Aquila (1466–1500) und Niccolò Leoniceno aus Vicenza (1428–1524). Im 16. Jahrh. sammelte Leo X. die berühmtesten Improvisatoren um sich. An seinem Hof improvisierten unter andern in lateinischer Sprache der berühmte Aurelio Brandolini, genannt Lippi, Andrea Marone (gest. 1527), der ihn sogar noch übertraf, und die Buffonen Camillo Querno, Giovanni Gazoldo, Girolamo Brittonio, Baraballoda Gaeta. In italienischer Sprache dichteten Bernardo Accolti, genannt l'unico Aretino (gest. 1534); wenn er vor Clemens VII. improvisierte, schloß man die Läden wie an Festtagen und eilte hin; weiter der berühmte Architekt Bramante (gest. 1514), der Humanist Mario Filelfo, Panfilo Sasso, Cristoforo, genannt l'Altissimo aus Florenz, Bartolommeo Carosi, genannt Brandano aus Siena (1488–1554). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind berühmt Giovanni Antonio Gelmi (ca. 1580), der in jedem Metrum dichtete, sein Rival Adriano Grandi, beide aus Verona, die Frauen Cecilia Micheli und Barbara da Correggio, besonders aber Silvio Antoniano (1540–1603), genannt Poetino, der als Kardinal starb. Aus dem 17. Jahrh. sei Giovan Antonio Magnani genannt. Im 18. Jahrh. blühten Bernardino Perfetti, 1725 von Benedikt XIII. zum Dichter gekrönt, Paolo Rolli, Domenico Lu chi, Pietro Metastasio (1698–1782), Maddalena Morelli [783] Fernandez, in der Arcadia Corilla Olimpica (1740–1800), die 1776 gekrönt wurde, Fortunata Sulgher-Fantastaci, Teresa Bandettini, endlich Lodovico Serio und Lodovico Rossi, die beide 1799 in den Wirren von Neapel umkamen. Im 19. Jahrh. sind zu nennen Francesco Gianni (1759–1822), Sestini (gest. 1822), Pistrucci, Bindocci, Tommaso Sgricci aus Arezzo, der 1825 zu Paris die Tragödie »Missolunghi«, zu Turin »Hektor« und zu Florenz den »Tod der Maria Stuart«, also ganze Tragödien in Versen, improvisierte, Rosa Taddei, Giannina Milli und der Dichter Regaldi. Auch die Voceratricen Korsikas und Sardiniens, Frauen, de die üblichen Totenklagen improvisieren, gehören hierher. Vgl. Vitagliano, Storia della poesia estemporanea nella letteratura italiana (Rom 1904), und Art. »Commedia dell' arte«. In Frau kreich gab seit 1825 Eugène de Pradel improvisatorische Abendunterhaltungen und erntete vielen Beifall; ebenso in Holland: de Clerq, der meist didaktische Gedichte vortrug, jedoch nie öffentlich auftrat. In Deutschland ist die Kunst der I. älter, als man gewöhnlich annimmt; schon die Minnesinger, z. T. selbst die Meistersinger waren in der Kunst der I. wohl geübt. Aus neuerer Zeit sind die Dichter Burmann, ein Zeitgenosse der Karschin, und Daniel Schubart, ebenso Hoffmann von Fallersleben als Meister der poetischen Stegreifsdichtung hervorzuheben, wenn sie auch nicht als öffentliche Improvisatoren auftraten. Nicht unerwähnt dürfen wir auch unsre Alpenbevölkerung lassen, soweit sie mit dem Gesang ihrer Vierzeiler (Schnaderhüpfel etc.) die freie Dichtung aus dem Stegreif verbindet, sei es zu Liebes-, sei es zu Lust- und Streitgesängen. In dieser I. war Franz v. Kobell ein Meister. Nach dem Muster der Spanier und Italiener war der erste deutsche Improvisator O. L. B. Wolff (s. d.), der dann in Maxim. Langenschwarz einen glücklichen Nachahmer fand. Letzterer versuchte sogar eine wissenschaftliche Theorie der I. in dem Buche »Die Arithmetik der Sprache, oder der Redner durch sich selbst« (Leipz. 1834) zu geben. Außer diesen beiden traten in Deutschland auf: K. Richter, Karoline Leonhardt-Lyser, Ed. Beermann, Eduard Volkert, dessen schönes Talent von Armut und Sorge erdrückt wurde (gest. 1865 in Schwabach), und Wilhelm Herrmann aus Braunschweig, der, wie Wolff, im lyrischen, epischen und dramatischen Fach, im Tragischen wie im Komischen Vortreffliches leistete.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 783-784.
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