Neukantianismus

[561] Neukantianismus. Nachdem zu Anfang des 19. Jahrh. der eigentliche Kritizismus Kants durch die großen idealistischen Systeme von Fichte, Schelling, Hegel sowie durch das realistische Herbarts verdrängt worden war, machte sich seit der Mitte der 1860er Jahre in Deutschland eine philosophische Bewegung geltend, die zu den Hauptgedanken der Kantischen Kritik zurückführte, zunächst die erkenntnistheoretischen Probleme in den Vordergrund stellte und dabei die spekulative Philosophie mit ihrer Metaphysik verwarf. Man pflegt diese ganze Richtung N. zu nennen, soweit auch ihre einzelnen Vertreter in der Auffassung Kants selbst sowie in der selbständigen Weiterentwickelung Kantischer Gedanken auseinander gehen. Es sind hier besonders zu nennen: O. Liebmann (s. d.), der in seiner Schrift »Kant und die Epigonen« (Stuttg. 1865) energisch aufforderte, zu Kant zurückzukehren; Friedr. Alb. Lange (s. d. 6), der in seiner vielgelesenen »Geschichte des Materialismus« (Iserlohn 1866, 7. Aufl. 1902) alle Erkenntnis auf die Erfahrung beschränkt, aber den moralischen Wert der Ideen anerkennt, obgleich ihnen eine wissenschaftliche Wahrheit nicht zukommen soll; Fritz Schultze (s. d.), der durch den Kritizismus Wissenschaft, Ethik und Religion versöhnen will; Hermann Cohen, der in seinen Schriften: »Kants Theorie der Erfahrung« (Berl. 1871, 2. Aufl. 1885), »Kants Begründung der Ethik« (das. 1877), »System der Philosophie« (Bd. 1: »Logik des reinen Erkennens«, das. 1902; Bd. 2: »Ethik des reinen Willens«, das. 1904) u.a., die Einzelseele selbst als bloße Erscheinung ansieht, hinter ihr aber ein »reines Bewußtsein« annimmt, dessen Funktionen Raum, Zeit und die Kategorien sind; ferner Paul Natorp (s. d. 2), Karl Vorländer (s. d.), Franz Staudinger, Kurd Laßwitz (s. d.), A. Stadler, Albrecht Krause. In Beziehung zu dieser neuen Erweckung Kants stehen auch die deutschen Positivisten E. La as (s. d.) und A. Riehl (s. d. 2) sowie der Theolog Albr. Ritschl (s. d. 2) mit seinen Anhängern, die jegliche Metaphysik aus der Religion verbannen und die Religion vornehmlich auf das Sittengesetz gründen wollen. Auch bedeutende Naturforscher neuerer Zeit, wie Helmholtz und Zöllner, standen der Kantischen Erkenntnistheorie nahe. Wesentliche Forderung hat diese ganze neukantische Richtung durch die streng philologische Behandlung erhalten, die in Ausgaben und Erklärungen den Schriften Kants namentlich durch Benno Erdmann (s. d. 6), Vaihinger (s. d.) und K. Kehrbach zuteil geworden ist.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 561.
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