Seekriegswesen

[258] Seekriegswesen, der Inbegriff alles dessen, was sich auf den Seekrieg (s. d.) bezieht. Das S. ist so alt wie der Seehandel, der es hervorrief. Die Ägypter hatten schon unter Thutmosis I. im 17. Jahrh. v. Chr. eine Kriegsflotte, die unter Ramses II. (Sesostris) eine Stärke von 400 wohlbemannten Schiffen gehabt haben soll; deren Bauart war bereits so entwickelt, daß die Galeeren des 18. Jahrh. n. Chr. fast wie Nachbilder der ägyptischen Ruderschiffe unter Ramses III. (13. Jahrh. v. Chr.) erscheinen. Auch die Phöniker bauten schmale, lange Kriegsschiffe mit Rudern, daher unabhängig vom Winde, zum Kapern fremder Handelsschiffe. Die Griechen besaßen 480 v. Chr. (Schlacht bei Salamis) eine vorzüglich eingerichtete Kriegsflotte und Fechtweise zur See, eine Rammtaktik. Man suchte dem feindlichen Schiff den in Höhe der Wasserlinie am Bug des eignen Schiffes befestigten Schnabel, Widder (Embolos) mit gewaltigem Stoß in die Seite zu rennen, dadurch die Seitenwand zu zertrümmern und das Schiff zum Sinken zu bringen. Im Vorder- und Hinterteil des Schiffes sowie auf den Laufbrücken in der Längenmitte waren Speerwerfer, Bogenschützen[258] und Katapulten für den Fernkampf aufgestellt. Gleich den Griechen waren die Karthager Meister im Rammen, aber schwach im Handgemenge, sie unterlagen deshalb den Römern, als diese bei Mylä die Entertaktik einführten, im Schwertkampf. – Sporn- und Entertaktik blieben bis aus Ende des Mittelalters, bis zur Einführung der Segel und Feuergeschütze, also so lange überall im Gebrauch, als die Schiffe eine vom Wind unabhängige Eigenbewegung besaßen. Mit den Geschützen an Bord der Schiffe gewann der Fernkampf an Bedeutung; die Entwickelung des Geschützwesens ermöglichte es, feindliche Schiffe schon aus der Ferne zum Sinken zu bringen oder kampfunfähig zu machen, das Entern war hierzu also nicht stets mehr notwendig und wurde immer mehr entbehrlich, je mehr die Feuerwirkung erstarkte. Dazu war es nötig, die bisher auf das Vorder- und Hinterkastell, festungsturmartige Hochbauten im Bug und Heck, beschränkten Geschütze auf die Seitenwände auszudehnen, aber damit mußten auch die Ruderer aufgegeben und die Segel vermehrt werden. Bald baute man nur noch Segel- oder Ruderschiffe; letztere führten indes für weitere Fahrten auch Segel, die aber im Kampf grundsätzlich eingezogen wurden. Beide Schiffsarten vestanden bis in das 18. Jahrh. nebeneinander, Deutschland besaß sogar noch 1870 für die Küstenverteidigung Ruderkanonenboote. Der aus alter Überlieferung am Bug der Segelschiffe beibehaltene Sporn verschwand, denn mit der Abhängigkeit der Schiffe vom Winde mußte auch die Rammtaktik aufgegeben werden. Die Taktik der Schiffe war vom Wind und der Erfolg im Kampf von der Artilleriewirkung abhängig. Als 1500 in Brest (von Descharges) Stückpforten für die Geschütze in den Breitseiten angebracht wurden, konnten die Geschütze auch unter dem Deck aufgestellt werden. Daraus entstanden die Schiffe mit Batterien in mehreren Stockwerken, die Zwei- und Dreidecker. Der 1514 in Woolwich vollendete Zweidecker Henry Grace à Dieu von 1000 Ton. war mit 122 Kanonen bewaffnet. Aus solchen großen Schiffen, den Linienschiffen, bestand die Schlachtflotte. Für den Kundschafts- und Kaperdienst wurden schnellsegelnde Fregatten oder Handelsschiffe gemietet und mit Geschützen bewaffnet. Der zunehmende Seehandelsverkehr förderte auch die Erweiterung der Kriegsmarinen und deren Entwickelung in militärischer Beziehung, woraus die Vorschriften für das Geschützexerzieren, Entern, Signalgebung etc. entstanden. Immer war es die Kriegsflotte der Handelsstaaten, die in der Entwickelung am schnellsten fortschritt, die Hollands, Englands, Spaniens. Eine mächtige Entfaltung aller Seemächte begann mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und den Napoleonischen Kriegen. Die Kunst, unter Segeln mit Kriegsschiffen zu manövrieren, erlangte einen hohen Grad von Vollkommenheit, aber sie blieb naturgemäß immer vom Wind abhängig, und als die letzte Seeschlacht zwischen Segelschiffen geschlagen wurde, die zu Navarino 20. Okt. 1827, war bereits die neue Zeit, die des Dampfschiffes, die dem Kriegsschiff die seit Jahrhunderten mit den Ruderern verloren gegangene Eigenbewegung zurückgab, angebrochen. Mit Beginn der 1830er Jahre wurden in die englische und französische Marine die ersten Raddampfer eingestellt, und 1840 traten Schraubendampfer an ihre Stelle. Nebenbei blieb die Takelung noch im Gebrauch, um die kostenlose Kraft des Windes zu benutzen, und weil man meinte, daß man mit den Segeln auch die Seefähigkeit des Schiffes, durch Veränderung der Schwerpunktslage, aufgeben würde. Trotz der großen Nachteile der Takelung im Kampf sowie ihrer Behinderung im Gebrauch der Geschütze, ihrer Raum- und Belastungsbeanspruchung des Schiffes ist erst in neuester Zeit bei allen Kriegsschiffen die Takelung aufgegeben worden.

Mit der Erbauung des ersten seefähigen Panzerschlachtschiffes Gloire in Frankreich begann eine neue Entwickelung der Kriegsflotten, die nach und nach im Bau des Kriegsschiffes mit allem Überlieferten brach und neue Grundsätze einführte. Der Panzerschutz war gegen die Sprengwirkung der Artilleriegeschosse notwendig geworden, Grund genug, die Durchschlagskraft der Geschosse zu steigern. So entbrannte gegen Ende der 1860er Jahre zwischen Panzer und Geschütz ein wechselvoller Wettstreit, dessen Abschluß einstweilen noch nicht abzusehen ist. Die Wiedererlangung der Eigenbewegung der Schiffe mußte zur Taktik des Altertums zurückführen und den Sporn wieder aufleben lassen. Labrousse empfahl bereits 1840 bei Einführung der Schraubenschiffe, deren Bug mit einem Sporn zu bewehren, aber erst zu Anfang der 1860er Jahre gelangte sein Vorschlag, in Frankreich bei den Panzerschiffen Magenta und Solferino, in England bei Resistence und Defence zur Anwendung. Seitdem erhielt jedes Schlachtschiff und jeder größere Kreuzer einen Rammbug. Die in der Schlacht bei Lissa mit dem Rammstoß erzielte Wirkung veranlaßte die Wiedereinführung der Rammtaktik, die den Sporn, das Schiff als Ramme, zur Hauptwaffe im Gefecht machen wollte. Sie wirkte fördernd auf die Entwickelung der Beweglichkeit der Schiffe, auf deren innere Einteilung in wasserdicht verschließbare Räume durch Quer- und Längsschotten, um die Wirkung des Rammstoßes zu beschränken. Die Notwendigkeit dieser Einrichtungen förderte ihrerseits die Verwendung von Eisen und Stahl zum Schiffbau. Zwar wurde die Zweckmäßigkeit des Eisenbaues viel bestritten, und in Frankreich baute man noch bis 1876 Panzerschlachtschiffe (Trident) und Kreuzer aus Holz, in England aber ging man schon ein Jahrzehnt früher zum Eisenbau über. Dem Eisen folgte bald der Stahl, der das Gewicht des Schiffsrumpfes verminderte und das ersparte Gewicht für andre Zwecke (Panzer, Artillerie) verfügbar machte.

Die Panzerschiffe hatten bereits mehrere Wandlungen hinsichtlich ihrer Bauart und Einrichtung hinter sich, als die Torpedoboote Mitte der 1870er Jahre ihnen gegenübertraten. Anfangs suchte man die Torpedoboote so klein wie möglich zu machen, aber man erkannte bald, daß der aus dieser geringen Größe hervorgehende Mangel an Seetüchtigkeit ihren Nutzen fast ganz aufhob. Infolgedessen wuchsen sie nach und nach auf 50–100 Ton. Der erzielte Vorteil ging indes abermals verloren, als man die Schnellfeuerkanonen einführte. Über die Entwickelung des modernen Seekriegswesens vgl. die Artikel »Marine, Panzerschiff, Kreuzer, Torpedo, Seeminen, Unterseeboote, Küstenkrieg, Seestrategie, Seetaktik, Seekrieg« u. a.

Vgl. Du Sein, Histoire de la marine de tous les peuples (Par. 1863–79, 2 Bde.); Graser, De veterum re navali (Berl. 1864); verschiedene Werke von Jurien de la Gravière (s. d.); Chabaud-Arnault, Histoire des flottes militaires (Par. 1889); Randaccio, Storia navale universale antica e moderna (Rom 1891, 2 Bde.); V. Becchj, Storia generale della marina militare (2. Aufl., das. 1895, 3 Bde.); Mahan, The influence of sea-power upon history 1660–1783 (2. Aufl., Boston 1891; deutsch,[259] Berl. 1895) und dessen weitere Werke (s. Mahan); Plüddemann, Modernes S. (Berl. 1902); Foß, Der Seekrieg (das. 1903); v. Lahrés, Politik und Seekrieg (das. 1903); v. Maltzahn, Der Seekrieg (Leipz. 1906); Stenzel, Seekriegsgeschichte (Hannov. 1907, Bd. 1); Rittmeyer, Seekriege und S. in ihrer weltgeschichtlichen Entwickelung (Berl. 1907, Bd. 1); Daveluy, Étude sur la stratégie navale (Nancy 1905; deutsch, Berl. 1907); Darrieus, La guerre sur mer (Par. 1907), auch die Literatur bei Artikel »Marine«, S. 305.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 258-260.
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