Trauer

[676] Trauer, die durch ein betrübendes Ereignis, namentlich durch den Verlust nahestehender oder verehrter Personen, oder durch die Erinnerung an solche Verluste (wie in den religiösen Trauerfesten um Adonis, Osiris etc.) verursachte Gemütsstimmung und deren Kundgebung nach außen. Letztere äußert sich vor der aufgebahrten Leiche und am offenen Grab am stärksten, und man hatte dazu bei Natur- und Kulturvölkern bestimmte Trauergesänge, wie die von Schiller umgedichtete »Nadowessische Totenklage«, das Adonis-, Linos- und Maneroslied der Griechen, Syrer und Ägypter, denen in der katholischen Kirche das Requiem (s. d.) entspricht. Im Orient wie bei den Slawen und im südlichen Italien erfüllen besondere Klageweiber das mit Zypressen und andern Trauersymbolen geschmückte Sterbehaus mit ihrem Geschrei. Bei den Naturvölkern ist die T. nach Heftigkeit der Kundgebung und auch nach Mannigfaltigkeit der Form im allgemeinen stärker ausgeprägt als bei den Kulturvölkern; bei ihnen gilt der Tod nirgends als ein natürliches Ereignis, sondern als der böswillige Eingriff eines andern in das Leben ihrer Angehörigen und Stammesgenossen, und demgemäß zerfällt die T. bei ihnen zu einem Teil in die Erfüllung der Blutrache, zum andern in die Beruhigung des eignen Gewissens, meist durch bestimmte Maßnahmen gegen[676] den eignen Körper. Der erste Teil äußert sich zunächst in dem Bestreben, den oder die vermutlichen Urheber des Todesfalles zu entdecken und umzubringen; gelingt das nicht, so begnügt man sich mit Ersatzsühneopfern, indem man die Sklaven des Verstorbenen tötet, oder seine Frauen einem meist verhängnisvoll verlaufenden Gottesurteil übergibt, oder indem man irgendeine beliebige, der Hexerei verdächtige alte Frau tötet, oder sich an dem behandelnden Medizinmanne vergreift u. dgl. Selbst zufällig anwesende Fremde sind aus der gleichen Gedankenfolge heraus von amerikanischen Eingebornen ausgeplündert worden; ebendort hat man auch verdächtige Freunde, ja selbst die eignen Kinder des Verstorbenen für dessen Ableben haftbar gemacht. Nicht zu verwechseln mit diesem Trauermotiv ist das sehr weit verbreitete andre, wonach dem Toten ebenfalls Sklaven, Kriegsgefangene, Frauen, ja selbst freie Männer ins Grab mitgegeben werden, aber nicht als Sühne- oder Racheopfer, sondern gewissermaßen als seine Begleiter ins Jenseits, als seine Diener und Gefährten, die ihm drüben alle die Lebensgewohnheiten weiter gewährleisten sollen, auf die der Tote hier auf Erden Anspruch hatte. Bei einigen nordamerikanischen Indianerstämmen, den Natchez, Flatheads (Selish), Nez percés (Sahaptin) etc., ist sogar Selbstmord aus diesem Motiv, also aus bloßer Zuneigung, verbürgt. Auch die indische Witwenverbrennung (s. Sutti) gehört hierher.

Eine weit allgemeinere Verbreitung als diese ersten beiden Trauerformen, die vorwaltend beim Tod angesehener Männer zum Ausdruck gelangen, bilden alle Maßnahmen, die dem Drange nach der Beruhigung des eignen Gewissens entspringen. In ihrer schärfsten Form äußern sie sich in den mannigfaltigsten Eingriffen in den eignen Körper (s. Trauerverstümmelung); sie schwanken zwischen grausamsten Peinigungen und dem Abschneiden der Haare. Auch die längere Entziehung des Schlafes, Fasten, geschlechtliche Enthaltsamkeit, Verweilen bei der Leiche in Frost und Hitze etc. gehören hierher.

Bei den Kulturvölkern tritt uns die T. im allgemeinen in einer sehr gemilderten Form entgegen, doch sind Ausnahmen auch hier nicht selten. Bekannt ist die maßlose T. der alten Israeliten, bei denen das Zerreißen der Kleider, das Bestreuen des Hauptes mit Asche und das in der Mitte gegürtete sackförmige Trauergewand aus dunkelfarbigem Stoff erst eine späte, milde Form sind. Auch im alten Ägypten zerschlug und zerkratzte man sich Gesicht und Brust, beschmierte man sich mit Erde und Kot und entsagte Reinlichkeit und Schmuck. Ähnlich die alten Griechen und Römer. In Attika dauerte die Privattrauer 30 Tage, in Sparta mußte sie am 12. Tage mit einem Opfer an Demeter beendet werden; in Rom war nur den Frauen (seit Numas Gesetzgebung) eine bestimmte Trauerzeit geboten. Bei Griechen und Orientalen, wo Bart und Haupthaar den Stolz des Mannes bilden, wurden und werden vielfach beide geschoren; anderwärts, z. B. in Rom, galt eine gewisse Vernachlässigung durch Langwachsenlassen als Trauerzeichen. Als Trauerfarben galten vorwiegend, z. B. den Griechen und Römern, die dunkeln, schwarzen, die auch früh bei den Christen Eingang fanden, obwohl Cyprian, Chrysostomos und andre Kirchenlehrer dieselben tadelten, weil sie der Hoffnung auf die ewigen Freuden zu widersprechen schienen. Dagegen trauerten die alten Ägypter in gelben Kleidern; bei den Chinesen sind noch heute weiße, blaue und graue Trauerkleider üblich. Die Argiver trugen weiße Trauerkleider, und ebenso scheint es ehemals in Deutschland gewesen zu sein, denn noch jetzt legt man in vielen Gebirgsgegenden, die an den alten Sitten länger festhalten, weiße Trauerkleider an, wie denn auch weiße Bahrtücher daselbst üblich waren und weiße Blumen als Sargschmuck allgemein verwendet werden. Grau gilt als die Farbe der nach einer gewissen Zeit eintretenden sogen. Halbtrauer, die besonders bei der schon in alten Kulturländern gesetzlich oder durch bestimmte Erlasse (Trauerordnungen) geregelten Landes- und Hoftrauer nach dem Tode des eignen oder befreundeter Landesfürsten streng beobachtet wird (vgl. Landestrauer). Das schon bei den Römern gesetzlich vorgeschriebene und auch bei uns meist eingehaltene sogen. Trauerjahr der Witwen bezieht sich nur auf etwa noch zu erwartende Nachkommenschaft des Verstorbenen und kann auf ärztliches Attest abgekürzt werden. Vgl. Wasmannsdorff, Die T. um die Toten bei den verschiedenen Völkern (Berl. 1885); K. Th. Preuß, Menschenopfer und Selbstverstümmelung bei der Totentrauer in Amerika (in der »Festschrift für A. Bastian«, das. 1896); J. G. Frazer, On certain burial customs as illustrative of the primitive theory of the Soul (im »Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland«, Bd. 15, Lond. 1899); Zappert, Über den Ausdruck des geistigen Schmerzes im Mittelalter (in den »Denkschriften der philologisch-historischen Klasse der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien«, Bd. 5, Wien 1854); W. Tegg,The last act being the funeral rites of nations and individuals (2. Aufl., Lond. 1878). Weiteres s. Trauerverstümmelung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 676-677.
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