Turanische Völker u. Sprachen

[938] Turanische Völker u. Sprachen (von neueren Forschern, wie bes. Castren, auch Altaische Völker u. Sprachen, od. Uralischaltaische od. Tatarische Völkern. Sprachen genannt), ein in seinem inneren Zusammenhange u. Verwandtschaftsverhältnissen erst in neuerer Zeit näher erforschter Völker- u. Sprachstamm, welcher im Allgemeinen über die ganze große Nordhälfte Chinas südlich bis zum tibetanischen Hochlande, dem Hindukuh u. Kaukasus, sowie über das nordöstliche, östliche u. südöstliche Europa ausgebreitet ist u. aller Wahrscheinlichkeit nach seine Urheimath am Nordrande Hochasiens, am Altai, hat. Von letzterem aus ergossen sie sich nach Osten, Norden u. Süden, die. etwa vorhandenen Ureinwohner anderen Stammes verdrängend, sowie über den Ural nach dem östlichen u. nördlichen Europa, wo sie jedoch durch Slawen (in Rußland) u. Germanen (in Skandinavien u. den Baltischen Ländern) viel Beeinträchtigung erfuhren, während ein anderer (Osmanen) sich erst vor wenigen Jahrhunderten in Vorderasien u. dem südöstlichen Europa seßhaft gemacht hat. Die alten Griechen u. Römer faßten alle diese Turanischen Völker unter dem Gesammtnamen der Skythen zusammen. Einfälle der Skythen aus Hochasien nach Indien u. Iran, sowie nach Vorderasien in historischer Zeit, sind mehrfach erfolgt. Ob ein Volk turanischen Stammes in Babylonien u. Chaldäa, vor Besitzergreifung dieser Länder durch semitische Völker, gewohnt hat, werden erst genauere Untersuchungen über die in den babylonischen Denkmälern enthaltenen Sprachreste aus vorsemitischer Zeit feststellen. Daß in Chusistan noch zur Zeit der Achämeniden eine Turanische Sprache gesprochen wurde, scheinen die altpersischen Keilschriften (s.d.) zweiter Ordnung zu bezeugen. In ethnologischer Beziehung ordnen sich sämmtliche Turanische Völker dem sogenannten Mongolischen Racentypus unter, nur daß diejenigen derselben, welche geographisch semitischen u. indogermanischen Völkern näher gerückt sind, auch viel von ihrem Racengepräge verloren u. sich dem Kaukasischen Typus genähert haben. Eine eigentlich historische Rolle haben nur die Tungusen (Mandschu), Mongolen u. die türkisch-tatarischen Völker in Asien, in Europa nur die Ungarn gespielt. Auch haben außer den eigentlichen Finnen nur die genannten Völker ihre Sprachen literarisch cultivirt u. eigene nationale Literaturen entwickelt. Die Turanischen Sprachen, je nach dem Grade ihrer Ausbildung sehr verschieden, tragen jedoch lexikalisch, wie grammatisch, ein gemeinsames Gepräge. Sie gehören sämmtlich zu den agglutinirenden Sprachen, doch ist bei denselben die Agglutination nicht so lose, wie in manchen andern Sprachen, sondern fast zur Flexion geworden. Die agglutinirten Wörter haben schon zum größten Theil ihre materielle Bedeutung verloren u. den Charakter wirklicher Affixe angenommen. Andere formelle Übereinstimmungen sämmtlicher Zweige der Turanischen Sprachfamilie sind z.B. noch, daß das Wort keine Präfixe duldet, daß es keine Präpositionen, sondern nur Postpositionen gibt, daß der Umlaut fehlt u. daß der Stammvocal den Endungsvocal bestimmt (durch Laut), daß nie ein Wort mit doppelter Consonanz beginnen u. beschließen kann etc. Am klarsten u. durchsichtigsten, sowie zugleich bis aufs Feinste nüancirt, zeigt sich der Organismus des turanischen Sprachtypus im Türkischen.

Nach ihren genealogischen Beziehungen lassen sich die T-n V. u. S. folgenderweise gruppiren: A) Die Tungusische od. Amurische Gruppe im nordöstlichen Asien, in einem östlichen (Lamuten, Mandschu u. verschiedene kleinere Völker im Amurlande) u. einem westlichen Zweige; zu letzterem gehören die Tschapogiren, Orotongen, Dauren etc. Ein tungusisches Volk waren auch die Khitan (s.d.) od. Liao. B) Die Mongolische Gruppein Hochasien, zerfällt ebenfalls in drei Unterabtheilungen, eine östliche mit den Scharra-, Khalkhas- u. Scharaigolmongolen; eine westliche, zu welcher außer den vier Hauptstämmen der Kalmücken auch noch die Aimaken u. die Sokpas (in Tibet) gehören; u. eine nördliche, welche die Burjäten (s.d.) umfaßt. Ob die in chinesischen Quellen häufig erwähnten Hiongnu u. die abendländischen Hunnen mongolischen od. türkischen Stammes waren, ist noch nicht entschieden. C) Die Türkische Gruppe, od. die Türkisch-Tatarische, od. auch blos Tatarische Völker u. Sprachen, den westlichen Theil von Hochasien u. das kaspisch-aralische Tiefland erfüllend, einerseits jedoch vielfach an den großen Strömen Sibiriens u. der Wolga abwärts bis tief nach Sibirien u. Rußland hineingedrängt, andererseits erobernd über einen großen Theil des östlichen Iran, Vorderasien, die Kaukasusländer, das südliche Rußland u. die Balkanhalbinsel u. selbst Nordafrika vorgedrungen. Sie zerfallen in drei Zweige: a) den Dschagataischen mit den Uiguren, Komanen, Dschagatai, Usbeken, Turkmanen u. Kasanischen Tataren; b) den nördlichen mit den Kirgisen, Karakalpaken, Baschkiren, mehren tatarischen Völkerschaften u. Dialekten Sibiriens u. den weit versprengten Jakuten; c) das eigentliche Türkische der Osmanen, auf der Krim, in Aserbeidschan u. Derbend. D) Die Samojedische Gruppe, über einen ungeheuern Raum im äußersten Nordosten Europas u. dem Norden des westlichen Sibiriens ausgebreitet, aber an Kopfzahl äußerst schwach u. in steter Abnahme begriffen, umfaßt die Völkerschaften u. Dialekte der Juraken, Tawgy- u. Ostjak. Samojeden, sowie der Jenissei Samojeden u. der Kamassinzen (die Jenissei-Ostjaken gehören nicht zum Turanischen Stamm). Endlich E) die weit verbreitete u. zersplitterte Gruppe der Finnischen Völker u. Sprachen im Norden u. Nordosten Europas mit ihren vier Hauptzweigen, dem ugrischen, wolgaischen, permischen u. baltisch-finnischen (s. Finnische Völker u. Sprachen). Unter denselben sind die eigentlichen Finnen u. die Magyaren unter Einwirkung des Christenthums u. der abendländischen, bes. der germanischen Cultur, zu einer höheren Entwickelung gelangt u. namentlich machen die Magyaren Anspruch auf Gleichberechtigung mit den übrigen Culturvölkern Europas. Um die Erforschung u. Bearbeitung der Turanschen Völker- u. Sprachenkunde haben sich in Rußland bes. Castrén, Schiefner u. Ahlquist, in Ungarn Hunfalvy, in Deutschland Schott, von der Gabelentz u. Boller verdient gemacht.[938]

In neuester Zeit versuchte Max Müller den Namen Turanische Sprachen auch auf die Sprachen vieler anderer Völker, deren Organismus Verwandtschaft mit dem der Altaischen Sprachen zeigt, zu übertragen. Nach seiner Ansicht bilden die Sprachen der oben verzeichneten altaischen Völker nur die eine, nördliche, Hauptabtheilung der großen Turanischen Sprachfamilie, während er als zweite, südliche Hauptabtheilung eine große Anzahl von Sprachgruppen im südlichen Asien zusammenfaßt. Nach seiner Classification gehören zu letzter: a) Die Taïsche Klasse mit den Siamesen, den Ahom, Laos, Khamu etc.; b) die Malayische Klasse, s. Malayische Völker u. Sprachen; c) die Gaugetische Klasse, welche wiederum in einen traushimalayischen (mit dem Tibetanischen) u. einen subhimalayischen Zweig zerfällt. In letzterem vereinigt er eine ziemliche Anzahl von Sprachen kleiner Völkerreste tibetanischen Stammes im nördlichsten Indien, wie Newar, Lepcha etc.; d) die Lohitiche Klasse, welche außer dem Birmanischen die Sprache zahlreicher kleiner Völker im Nordwesten von Hinterindien u. dem Nordosten von Bengalen zusammenfaßt (Singpto, Mikir, Katschar, Naga, Kuki, Khyeng etc.); e) die Munduklasse, welche ebenfalls nur Völkertrümmer umfaßt, welche sich im Innern des nördlichen Theils der Vorderindischen Halbinsel erhalten haben, wie Ho, Kol, Sontal, Mundala; endlich f) die Tamulische Klasse, welche die sogenannten Dravidischen Sprachen (s.d.) umfaßt. Vgl. Max Müller, Vorlesungen über Sprachwissenschaft (deutsch von Böttger), Lpz. 1863.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 17. Altenburg 1863, S. 938-939.
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