Gericht (Urtheil)

Gericht (Urtheil).


1. Alles weltliche Gericht muss man vom Könige empfangen.Graf, 558, 51.

Alle Rechtspflege kann nur im Namen des Staatsoberhauptes, das die Gesellschaft vertritt, geübt werden.

Mhd.: Alle weltliche gericht mues man von dem kaiser emphahenn. (Maurer, I, 73.)


2. Am Jüngsten Gericht wird alles geschlicht't.

»Am Jüngsten Gericht soll jeder zu seinem Recht kommen, bis dahin aber soll er gläubig und demüthig alles Unrecht ertragen.« (Ruge, Hallische Jahrbücher, 1842, S. 10.)


3. Am starken Gericht spürt man des Kaisers Gerechtigkeit.Graf, 286, 22.

An einer durchgreifenden unparteiischen Rechtspflege erkennt man eine gute Regierung.

Mhd.: An dem starken gerichte spuret me des keysers gerechtikeyt. (Endemann, II, 69, 2.)


4. Das Gericht geht so weit als die Flur.


5. Das Gericht ist da, dass es richte.

D.h. nach sorgfältiger und unparteiischer Untersuchung entscheide.

Böhm.: Proto soud, aby soudil. (Čelakovský, 262 u. 354.)


6. Das Gericht ist deren Erbe nicht, die daran gesessen.Graf, 404, 17.

Die Richter wurden nicht durch Geburt, sondern durch Wahl berufen. – Mittelhochdeutsch bei Grimm, Weisth., III, 577, und Kindlinger's Geschichte der Hörigkeit (Berlin 1819), S. 686.


7. Das Gericht ist eine Krone der Bescheidenheit. Graf, 403, 5.

Als Gotteswerk ist »das Gericht die Weisheit, eine unirrsame Strasse der Besten, die Wahrheit selbst«.

Mhd.: Daz gerichte ist eine crone aller bescheidenheit. (Endemann, I, 6, 7; Ficker, 75, 77.)


8. Das Gericht ist schuldig, das Raubgut in die rechte Hand zu bringen.Graf, 476, 616.

Das Gericht soll alles Unrecht wenden und jedem zu seinem Recht verhelfen.

Altfries.: Dat riucht is schyldich dat raefgued weer in da riuchta hand to dryuuen. (Hettema, Jurisprudentia frisica, LIX, 9, 176.)


9. Das Gericht muss allzeit mit nüchterner Zunge geleitet werden.Graf, 404, 26.

Das Sprichwort will nicht blos sagen, dass die Richter nicht betrunken sein sollen, wenn sie ein Urtheil abgeben, was sich von selbst versteht, nüchtern sagt hier, dass sie auch noch nicht gegessen haben sollen. Die Gerichtssitzungen fanden bei unsern Vorfahren zeitig statt, nur bei steigender Sonne, und dauerten höchstens bis Mittag, selten so lange, schon deshalb, weil der Hunger zur Kürze mahnte. »Wer nur einen Bissen genoss«, heisst es, »wird vor Gott schuldig.« (Vgl. Landrechtsbuch des Schwabenspiegels von Wackernagel, Zürich 1840, S. 81.)

Altfries.: Dat riucht schel altyd mey nochteren tonghe leyd wirda. (Hettema, Jurisprudentia frisica, 1, 47, 17.)


10. Das Gericht straft die Unschuld oft, das Laster nicht.Eiselein, 227.


11. Des Gerichts erste Hand ist der König.Graf, 403, 13.

Wenn Gott das Recht ist, so ist der König, d.h. das Staatsoberhaupt, sein einziger Stellvertreter und alle gesetzten oder gewählten Richter sitzen an seiner Statt.

Mhd.: Dy erste hand des gerichtes das ist der künig. (Senckenberg, 108, 14.)


12. Ein ehrlich gericht ist offt ein vrsach ehrlich zu handeln.Henisch, 804, 47.


13. Ein Gericht bei Gras, das andere bei Stroh. Graf, 404, 28; Wiegand, II, 296, 9; Steinen, III, 609 u. 1359.

Wie nur bei steigender Sonne Gericht gehalten werden durfte, so bestimmte die Sonne auch den Tag des Gerichts. Wenn sie in den Tag- und Nachtgleichen des Herbstes stillsteht, hielt man in früher Vorzeit Gericht, »das echte ungebotene Ding«, eins bei Gras (Frühling), das andere bei Stroh (Herbst).

Mhd.: Ein godink bei grase und eins bei stro. (Grimm, Weisth., III, 130.)


14. Es kann nicht sein ein recht Gericht, da der Pfenning das Vrtheil spricht.Henisch, 1516, 27; Petri, II, 281.


15. Gericht ist Gottes Werk.Graf, 403, 1.

Wenn Gott das Recht ist, so muss auch das Gericht sein Werk sein.


16. Gericht niedert sich nicht an die vierte Hand.Graf, 558, 58.

Ein Lehn, an welchem peinliche Gerichtsbarkeit haftete, durfte nur einmal verafterlehnt werden, sodass es nicht in die vierte Hand kam.

Mhd.: Len an deme gerichte daz ne nidirt sich nicht an die vierdiu hand. (Görlitzer Lehnrecht, S. 17 in Köhler's Scriptores rerum Lausaticarum, Görlitz 1839.)


[1568] 17. Gericht stärkt Gottes Lob.Graf, 403, 2.

Mhd.: Gerichte sterket gotes lob. (Endemann, I, 1.)


18. Gericht wird oft verkehrt.Graf, 477, 633.

D.h. aus Irrthum oder Parteilichkeit siegt die schlechte und unterliegt die gerechte Sache. Ein ungerechtes Urtheil gehört nicht zu den Seltenheiten. Es ist schon eine alte Klage: Vor Gott schuldig und vor den Leuten unschuldig. »Gericht wirt offt verkert.« (Process, 123.)


19. Im Gericht gilt kein ansehen der Person. Petri, II, 399.

»Man fordert keinen darumb für Gericht, dass er arbeit, dass ihm die Haut raucht.« (Petri, II, 446.)


20. Jedes weltliche Gericht beginnt von Wahl. Graf, 403, 11.

Im altdeutschen Recht wählte das Volk sich selbst seine Richter. »Nicht die Parteien, sondern das Gemeinwesen, dem beide Theile angehören, wählt sich seine Obrigkeit.« (Lappenberg, Hamburgerrecht.)

Mhd.: Al werlik gerichte heuet begin von kore. (Homeyer, Sachsenspiegel, I, 35.)


21. Von einem höhern Gericht kann man an kein niederes appelliren.


22. Vor dem kirchlichen Gericht bewahr' uns lieber Herre Gott. (S. Krummstab.)


23. Vor Gericht ist eine Partei der andern gleich.Graf, 432, 249; Freyberg, 170.

Böhm.: Soud má dvĕ strany. – Soudce má na obĕ uši stejnĕ slyšeti. (Čelakovský, 359.)

Kroat.: Sudec mora obvodva vuha jednaka imeti.

Poln.: Ucho jedno daj skarzącemu, drugie obwinionemu. (Čelakovský, 359.)


24. Vor Gericht ist kein Ansehen der Person.

Nur zuweilen des Beutels, wie ein dänisches Sprichwort versichert: Better gaaer frem tit som pungen veyer til. (Prov. dan., 473.)


25. Vor Gericht muss alles klar sein.Graf, 441, 335.

D.h. die Klage muss allen Anforderungen entsprechend begründet (substantiirt) sein.

Altfries.: Al tingh claer shal wessa foer riucht. (Hettema, Jurisprudentia frisica, VII, 10, 54.)


26. Was das Gericht entschieden, ist entschieden.

Bei einem in verbindlicher Form ergangenen rechtskräftigen Urtheil muss es sein Bewenden behalten.

Böhm.: Rozsouzeno, dosouzeno. – Souzené se znova nesoudí. – Svršeno, pohřbeno. (Čelakovský, 342.)


27. Was man bei einem Gericht verliert, kann man beim andern wieder gewinnen.

Frz.: Le conseil soubscrit est d'avis qui le per ticy le peut gaigner à Paris. (Leroux, I, 245.)


28. Wer an Gericht verfällt, macht billig Willen.Graf, 479, 676.

»Denn aller Leute Hände«, heisst es im Kaiserrecht, »werden an den gelegt, der dem Rechte entgegen sein will.«

Mhd.: Wer do verfallin ist am gericht, machet billich willen. (Grimm, Weisth., III, 589.)


29. Wer das Gericht anruft, fordert scharf genug.

Frz.: Assez demande qui se complaint. (Leroux, II, 174.)


30. Wer das Gericht fleucht, gibt sich schuldig.

Lat.: Fatetur facinus is, qui judicium fugit. (Publ. Syr.) (Binder I, 527; II, 1103; Fischer, 91, 22; Philippi, I, 152; Seybold, 175.)


31. Wer Gericht hält, soll nüchtern sein. (S. 7.)

Dän.: Han skal være ædru, som ret skal styre. (Prov. dan., 134.)


32. Wer nit goht i Gericht und Roth, der weiss nit, wie wohl dass um ihn stoht.Kirchhofer, 126.

Böhm.: Bĕda jdoucímu, bĕda i vedoucímu. (Čelakovský, 355.)


33. Wer sich vor ein Gericht verbindet, bleibt verbunden.Graf, 437, 316.

Handelt von der Zuständigkeit des Gerichts und sagt, dass in Fällen, in denen diese mehr als einem zustehen könnte, z.B. dem, wo die Handlung geschehen, wie dem des Wohnorts des Thäters, das Gericht entscheiden soll, bei dem einmal die Sache anhängig geworden ist.

Holl.: Wie dat hem verbint voor't gherechte, hij scal ghebonden bliven. (Mieris, I, 521, 114.)


34. Wer vom Gericht bringt heile Haut, der kann singen überlaut.Eiselein, 227.

35. Wie das Gericht fragt, so antworten die Zeugen.

Frz.: Tel tribunal, telle déposition. (Cahier, 1725.)


36. Wie hoch die Gerichte Gottes sind, kann begreifen kein Menschenkind.Körte, 2383; Sprichwörterschatz, 170.


37. Wo Gericht ist, da ist Friede.Graf, 403, 9.

Wo ein ordentlicher Rechtszustand herrscht, da kann jeder, auch der Schwächere, in Ruhe und Frieden leben. »Wor iss Gerichte, dar iss Frede.« (Normann, 48, 37.)


[1569] 38. Wo Gericht ist, soll ein Büttel sein.Graf, 418, 134.

»Richter und Urtheiler sind Kopf und Herz des Gerichts, die ausführende Hand ist der Bote oder Gerichtsdiener, auch Büttel oder Fronbote genannt, der für ebenso unverletzlich galt als die Richter. Fronbote, d.h. der heilige Bote.« (Klingen, 31, a.b.) Wo Gericht ist, da soll ein pütel sein. (Freyberg, IV, 522, 3.)


39. Wo man Gericht hegt, gebeut man Friede. (S. Gerichtsgewalt.) Graf, 403, 7.

Mhd.: Wor men Gerichte heget, dar büth mon Frede. (Normann, 48, 37.)


40. Wo viel gericht vnnd Juristen, do gibts desto mehr Zanck vnnd streitt.Lehmann, 807, 18.


[Zusätze und Ergänzungen]

41. Das Gericht gewinnt seinen Fortgang, ihr kommt, oder nicht.Graf, 444, 384.


42. Das Gericht scheut die Bösen.Graf, 408, 37.

Das Richteramt kann nur Männern übertragen werden, die makellos dastehen.

Mhd.: Dy bosin schuwet daz gerichte. (Endemann, I, 8.)


43. Det Gericht mäkt klauke Köppe un kahle Röcke. (Sauerland.)


*44. Das ist westfelisch gericht.Geiler, Alsatia, 1862-67, S. 470.

Zunächst das Femgericht, dann ein Geheimniss; endlich irgend etwas Unverständliches.


Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 1. Leipzig 1867.
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