Christus

[111] Christus, der Gesalbte, Messias, als Mensch Jesus, Retter genannt, ist dogmatisch der vorweltliche, ewige, persönliche Gottessohn, die zweite Person in der göttlichen Dreieinigkeit, theilhaftig der ganzen Fülle des göttlichen Wesens. Als Logos bethätigte er seine göttliche Wirksamkeit in der Weltschöpfung, dann in der gesammten moralischen Welt fortwährend als Urquell und Spender alles göttlichen Lichtes und Lebens, vollbrachte durch seine Menschwerdung, sein Leiden und Sterben, die Erlösung des Menschengeschlechtes und setzte dieselbe durch Stiftung seiner Weltkirche fort, den Menschen aller Völker und Zeiten Mittel zur Seligkeit zuwendend. Dem Dogma entsprechend erscheint C. als der Mittelpunkt der Weltgeschichte, näher als der Messias des alten Bundes, dann als menschgewordener Logos oder historischer C. im engern Sinne, endlich als eucharistischer C. in der Kirche, die sein mystischer Leib ist. J. Für den Messias [111] des alten Bundes spricht das Vorhandensein des Menschengeschlechtes überhaupt, weil ohne einen göttlichen Mittler die Folge der Sünde das Nichtsein des ganzen Menschengeschlechtes gewesen wäre und ebenso die Nothwendigkeit einer fortgesetzten Offenbarung, welche aus der Hinneigung des Menschen zur Selbstsucht und der daraus erfolgenden Verdunkelung des Erkenntnißvermögens fließt. – In der vorchristlichen Zeit erscheint die Menschheit in 2 sehr ungleiche Hälften, Heiden- und Judenthum, zerspalten. Die Heidenwelt vertrat das Princip der subjectiven Freiheit und seine Entwicklung endigte in dem Satze, daß der Mensch Gott sei, das Judenthum war der Träger des Princips der göttlichen Autorität, näher der Verheissung, daß Gott Mensch werde und seine Geschichte endigte in der Trübung der geoffenbarten Messiasidee, laut welcher der Erlöser nur ein von äußeren Fesseln äußerlich befreiender Held und Stifter eines jüdischen Weltreiches sein sollte. Bei beiden Hälften des Menschengeschlechts erscheint die Trübung der Gottesidee als Folge des sich fortsetzenden Sündenfalles, die Erhaltung derselben überhaupt als Folge der Wirksamkeit des Logos. Während das Gottesbewußtsein der heidnischen Völker in nationalen Religionen zersplitterte und diese mehr oder minder in den Dienst der Selbstsucht und Wirklichkeit gezogen wurden, sank es näh er zur Verehrung der Natur als solcher und von dieser zum Fetischismus geschichtloser Horden und Stämme herab, oder führte wie in China und Indien zur Vergötterung der gesammten Wirklichkeit als wem Abbilde der himmlischen Ordnung, womit tausendjährige Erstarrung die Weihe der Religion erhielt und erleuchteten Männern der Nerv umfassender Wirksamkeit abgeschnitten wurde. Die Träger der heidnischen Geschichte, die geistig hoch begabten Völker längs den Ufern des Mittelmeeres sanken, angeregt von den aus Indien gekommenen Aegyptern und dem Zendvolke, dennoch mit diesen von der Vergötterung der Natur in mehr oder minder idealmenschlichen Gestalten zu der einer allgemeinen Vernunft, alsdann der Wirklichkeit und des einzelnen concreten Menschen herab. Ihre Wissenschaft verlieh dem Entwicklungsgange des äußern Lebens den entsprechenden Ausdruck und einzelne Weise waren wohl im Stande, die Ahnung des wahren Gottes auszusprechen, nicht aber, dieselbe allgemein zu erhalten und dem Siege des Naturgesetzes: Werden, Blühen und Vergehen, Einhalt zu gebieten. Das Heidenthum kam zur Vergötterung der Cäsaren, welche durch den Neuplatonismus wissenschaftliche Rechtfertigung erhalten sollte, gerade als der Einzelne an sich, an den Andern und den alten Göttern verzweifelte und das innere Wehe in ungebändigter Sinnenlust so wenig als in erlogener Resignation zu ersticken vermochte. Der Mensch ist Gott und doch unglücklicher als jedes Thier, rief das Heidenthum und: Gott wird Mensch, denn die Fülle der Zeit ist nahe, antwortete sehnsüchtig zugleich und verzweifelnd das Judenvolk, das Gott zu seinem besondern Eigenthume gemacht und welchem er im Verlaufe seiner Geschichte wiederum näher und näher getreten. Auch nach dem Sündenfalle einzelnen Auserwählten des auserwählten Volkes noch nahetretend (Theophanien), empfing durch den Logos Israel während der patriarchalischen Zeit (1920 bis 1689) ganz bestimmte Verheißungen, welche über Abstammung, Wirksamkeit und Zeit des Auftretens des Helfers und Segenspenders keinen Zweifel übrig ließen. Der allgemeine Begriff desselben steigerte sich durch Vermittlung der mosaischen Periode (1500 bis 1450) zu dem eines Herrschers und Gesetzgebers, eines zweiten Moses der Völker (Num. 24,17–19. Deut. 18,15–18) und durch die Davidische (1050 bis 950) zu dem jenes Königs, dessen Erhabenheit die Psalmen ewig preisen, ohne dessen Leiden zu vergessen. Gottbegeisterte Propheten bilden in den trüben Tagen der Verbannungen (800 bis 520) das messianische Bewußtsein so vollständig aus, daß C. gewissermassen schon sichtbar wirkt. In ihm schaut Jesajas den Priester der Priester, ohne dem verkommenen Volke den Geopferten und dessen Kirche ins Herz pflanzen [112] zu können, welchen Ezechiel bereits als menschgewordenen Logos, Daniel aber als Menschen einer genau bestimmten Zeitperiode schaute. Nach der Rückkehr in das Land der Väter verstummen die Propheten, ihre Stimme ist den Meisten des selbstsüchtigen und in das Geschick der Heidenwelt hineingezogenen Volkes nicht wahrhaft verständlich geworden. Der tiefsten Selbsterniedrigung des Menschengeschlechtes aber folgte der höchste Beweis der Liebe des Vaters, indem II. der Gottessohn der uralten Verheißung gemäß Fleisch wurde und als C. Jesus persönlich in die Weltgeschichte trat. Laut neuester Berechnung geschah dies am 25. Dec. 747 nach Roms Erbauung oder im 2. Jahr der 193. Olympiade zu Bethlehem durch die königliche Jungfrau Maria. Das Leben J. C., wie uns dasselbe in den Evangelien entgegentritt, als bekannt voraussetzend, genüge Weniges hinsichtlich der Gottmenschlichkeit, welche die Sonne der christlichen Weltanschauung, die Gränzmarke zwischen Heiden- u. Judenthum einerseits, und Christenthum anderseits und zugleich der Angelpunkt der wichtigsten, folgenschwersten theologischen Streitigkeiten von Anbeginn gewesen und bis heute geblieben ist. Alle Verheißungen des alten Bundes, Zustände und Erwartungen der Welt zur Zeit des Augustus, Zeugnisse heidnischer Schriftsteller, der unmythische Charakter des neuen Testamentes, der Mangel an Widersprüchen in demselben trotz der aus den besondern Zwecken der Verfasser fließenden Verschiedenartigkeit der Erzählungen, der übermenschlich hohe Charakter des Gottessohnes, die principiell unvermittelte Neuheit seiner Lehre, welche im Bunde mit den Gleichnissen und Wundern die tiefsinnigste Symbolik der Weltgeschichte ausmachen, seine eigenen bestimmten Aussagen, die Zeugnisse der Apostel, Kirchenväter sowie der Martyrer und Christen aller Jahrhunderte, die buchstäbliche Erfüllung aller Weissagungen, insoweit dieselben bis heute gehen, die Geschichte der Juden, der Christenheit und des Menschengeschlechtes – dies Alles hat so wenig als das in der Gegenwart stets sichtbare Fortwirken und Fortleben J. C. in seiner Kirche jemals verhindert, daß nicht Irrthum, Zweifel und Unglaube sich gegen den Gottmenschen, die geoffenbarte Religion und die Kirche sich erhoben. Hierin offenbart sich der dauernde Kampf der Ewigkeit mit der Zeit, des Prinzips der göttlichen Autorität mit dem der subjectiven Freiheit; derselbe kann nicht aufhören; weil der Glaube an den Gottessohn zugleich That des sittlichen Willens und der Gnade Gottes sowie der Erkenntniß ist, und wird nicht aufhören, so lange die subjective Freiheit und damit die Möglichkeit des Grundsatzes übrig bleibt: »Was ich nicht begreife, ist weder möglich, noch wirklich, noch nothwendig!« – Christi menschliche Natur offenbarte sich darin, daß er gleich uns aß, trank, schlief, weinte, litt und starb, die göttliche historisch zunächst am 12jährigen Jesus im Tempel, wo er als Jude das Recht der Rede bei den Nabiim besaß und eine durch keine wissenschaftliche Bildung vermittelte Erkenntniß göttlicher Dinge bewies, ferner gelegentlich der Taufe am Jordan, wo zugleich die stellvertretende Genugthuung beginnt. Nachdem er in der Wüste alle Versuchungen der menschlichen Natur überwunden, trat er in die Welt hinaus, um zu lehren, wobei er geschichtliche Thatsachen und erhabene Wahrheiten häufig in unerreichbar schöne Gleichnisse hüllt, durch seinen Wandel zunächst den haltlosen Zeitgenossen als Muster voranzuleuchten, Wunder zu wirken, deren jedes im sinnvollsten Zusammenhange mit dem ganzen Erlösungswerke steht und durch dies Alles Anhänger zu gewinnen. Indem er den Simon an sich zieht und Petrus »Felsenmann« tauft, erwählt er diesen zum Vorsteher seiner Kirche, und zum Beweise, daß seine Lehre fern sei vom Todtendienst der melancholischen Aegypter und der übertriebenen Weltentfremdung indischer Büßer, heiligt er durch sein erstes Wunder zu Kana erlaubten Sinnengenuß, während er als der entschiedenste und freimüthigste Gegner aller Selbsucht sich bewährt. Als Wohlthäter des Menschengeschlechtes durch zahlreiche Wunder zugleich seine göttliche [113] Mission beurkundend, bezeugte er selbst immer unumwundener, daß er Gottes Sohn sei und erwarb sich den vollen Haß der Fleischlichgesinnten. Die Verklärung auf dem Tabor erscheint als Wendepunkt im Leben J. C. und zugleich als Huldigung des Weltgesetzes, wornach die höchste Blüthe des Creatürlichen den beginnenden Zerfall in sich birgt. Lazarus Auferweckung bestätigte ihn zum letztenmal öffentlich als Weltheiland und Todesbesieger und zwang die erbittertsten Gegner zur Anerkennung seines übermenschlichen Thuns, nicht aber seiner göttlichen Natur. Durch Einsetzung des hl. Abendmahles (s. d. A.) fand das tiefste Symbol des alten Bundes seine Erfüllung und die als irdischhimmlische Gemeinde bereits gestiftete Kirche ihr göttliches Lebensprinzip. Sein Leiden und Sterben, durch erfinderischen Haß unbeschreiblich qualvoll gemacht, erfolgte nach 3jähriger Wirksamkeit laut einer neuen Berechnung am 15. April 782 nach Erbauung Roms und war von schrecklichen Naturereignissen begleitet, welche sich keineswegs auf Jerusalem und Palästina beschränkten: der Augenblick des Todes war der der Wiedergeburt der Natur und Menschheit, er sühnte die Geschlechtsschuld der Creatur, große geschichtliche Ereignisse aber stehen in einem häufig wahrgenommenen geheimnißvollen Zusammenhange mit gewaltigen Naturerschütterungen. Durch seine Auferstehung gab C. Bürgschaft persönlicher Unsterblichkeit, durch die Himmelfahrt für die Existenz des Himmels, durch Sendung des hl. Geistes am Pfingstfeste für die Fortdauer seines Wirkens in der Kirche, sowie für seine göttliche Macht und die Macht des Glaubens. III. Der eucharistische C. lebt fort in der Kirche, seinem mystischen Leibe, welche als die eine, einige, heilige, katholische oder allgemeine und apostolische am ersten Pfingstfeste in die Geschichte eintrat mit der Bestimmung, das königliche, prophetische und hohepriesterliche Amt J. C. fortzusetzen, die Zeit bis zum Ende der Zeiten fortwährend mit der Ewigkeit und das Werk ihres göttlichen Stifters in der Menschheit zu vermitteln und dadurch das Reich Gottes auf Erden herbeizuführen (vgl. Kirche).

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 111-114.
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