Delavigne

[605] Delavigne (spr. dölawinj'), Casimir, franz. Dichter, geb. 4. April 1793 in Le Havre, gest. 11. Dez. 1843 in Lyon, erregte schon früh Aufsehen durch sein Talent, gewann 1815 durch »La découverte de la vaccine« einen Nebenpreis der Akademie und eroberte im Sturm die Herzen der Nation durch seine »Messéniennes« (1818), worin er seinem glühenden Patriotismus beredte Worte lieh. Er erhielt darauf den Posten als Bibliothekar an der Staatskanzlei, verlor ihn aber 1822, als er in neuen »Messéniennes« den Befreiungskampf der Griechen besang; dafür machte ihn der Herzog von Orléans zum Bibliothekar des Palais Royal, und dieses Amt bekleidete er bis an seinen Tod. Die Bühne betrat D. mit dem Trauerspiel »Les vêpres Siciliennes« (1819), das trotz der Zurückweisung durch das Théâtre-Français einen großartigen Erfolg davontrug. Diesem Stück folgten das Lustspiel »Les Comédiens« (1820), das Trauerspiel »Le Paria« (1821, mit Chören) und die Lustspiele: »L'école des vieillards« (1823) und »La princesse Aurélie« (1828). Ersteres, sein bestes Lustspiel, trug ihm einen Sitz in der Akademie (1825) ein; eine Pension, die Karl X. ihm anbot, schlug er aus. Von einer Reise, die er infolge seiner geschwächten Gesundheit nach Italien machte, brachte er außer sieben neuen »Messéniennes« eine Veränderung seiner dichterischen Anschauungen zurück, die in der Tragödie »Marino Faliero« (1829) zuerst hervortrat. Denn wenn D. sich früher den Regeln des klassischen Dramas angeschlossen hatte, so näherte er sich jetzt dem Lager der Romantiker in der Absicht, die beiden Schulen zu versöhnen. Die Julirevolution begeisterte ihn zu den volkstümlich gewordenen Gesängen: »La Parisienne« (komponiert von Auber), »La Varsovienne« etc., zu der »Messénienne« : »Une semaine à Paris« und der Ballade »Le chien du Louvre«. 1832 wurde sein »Louis XI« ausgeführt, wie »Marino Faliero« eine Mischung von Tragischem und Komischem, aber entschiedener dem Zeitgeschmack huldigend. Das Trauerspiel »Les enfants d'Edouard« (1833) und besonders das Lustspiel »Don Juan d'Autriche« (1835) gehören wegen der Lebendigkeit der Handlung und des poetischen Schwunges zu den besten Stücken des Dichters. D. ist neben Béranger der Hauptvertreter der liberalen Richtung in der zeitgenössischen Poesie. Er ist hauptsächlich Lyriker; einzelne seiner Gedichte, besonders auch die Chöre des »Paria«, überraschen durch Wärme und Innigkeit des Gefühls, Eleganz und Reinheit des Ausdrucks. Seine Bühnenwerke stehen weit tiefer; sie sind technisch geschickt, aber man merkt ihnen das Mühsame, Gemachte an. Sein Stil schließt sich einerseits eng an Racine an und erlaubt sich anderseits, besonders seit seinem »Louis XI«, gewisse Freiheiten, die dem streng klassischen Geschmack wenig zusagten: ein Bild seines unentschiedenen, vorsichtig lavierenden Charakters. Von seiner Vaterstadt wurde ihm ein Denkmal errichtet. Seine Werke erschienen bei Didier (1845, 6 Bde.; 1856, 4 Bde.), bei Charpentier (1851, 4 Bde.), zuletzt bei Didot (1885). Vgl. Vuacheux, Casimir D., étude biographique et littéraire (Le Havre u. Par. 1894); Favrot, Études sur Casimir D. (Bern 1894). – Sein Bruder Germain, geb. 1790, gest. 1868, hat als Verfasser von Vaudeville- und Operntexten einen Namen gewonnen. Mit Scribe lieferte er die Texte zur »Stummen von Portici«, zum »Schnee«, zu Meyerbeers »Robert der Teufel«, »Hugenotten« u. a.[605]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 605-606.
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