Tell, Wilhelm

[396] Tell, Wilhelm, der durch Schillers Dichtung verherrlichte Held der Schweizersage, angeblich aus Bürglen im Kanton Uri, Schwiegersohn Walter Fürsts. Als er 18. Nov. 1307 dem vom Landvogt Geßler zu Altorf aufgesteckten Hute die befohlene Reverenz nicht erwies, gebot ihm der Vogt als berühmtem Armbrustschützen, einen Apfel von dem Haupte seines Söhnleins zu schießen, und zwang ihn durch die Drohung, das Kind müsse sonst mit ihm sterben, zu der unnatürlichen Tat. Als T. auf die Frage nach dem Zwecke des zweiten Pfeiles, den er zu sich gesteckt, antwortete, derselbe wäre, wenn er sein Kind getroffen, für den Vogt bestimmt gewesen, befahl dieser, ihn gefesselt auf seine Burg nach Küßnacht überzuführen. Auf dem Vierwaldstätter See brachte ein Sturm das Fahrzeug in Gefahr, und T. als starker, des Fahrens kundiger Mann ward seiner Fesseln entledigt, um es zu lenken. Geschickt wußte er das Schiff gegen das Ufer zu treiben, sprang dort vom Bord auf eine hervorragende Felsplatte, die noch jetzt die Tellsplatte heißt, und eilte über das Gebirge nach Küßnacht, wo er Geßler in der »Hohlen Gasse« erschoß. 1315 soll T. in der Schlacht am Morgarten mitgefochten und 1354 in dem Schächenbach beim Versuch der Rettung eines Kindes den Tod gefunden haben. 1895 wurde T. zu Altorf ein Denkmal von der Hand Richard Kißlings errichtet. Nachdem schon der Freiburger Guillimann 1607 und der Berner Pfarrer Freudenberger 1752 die Geschichte Tells als Fabel bezeichnet hatten, ist in neuerer Zeit durch die Forschungen Kopps (s. Kopp 1) u. a. in unzweifelhafter Weise dargetan worden, daß die ganze herkömmliche Überlieferung über die Befreiung der Waldstätte im Widerspruch mit der urkundlich beglaubigten Geschichte (s. Schweiz, S. 191) steht, und daß die Tellstat in keinen zeitgenössischen oder der Zeit näher stehenden Quellen erwähnt wird. Erst um 1470 taucht die Tellsage auf und zwar in zwei Versionen. Die eine, repräsentiert durch ein um 1477 entstandenes Volkslied, die 1482–88 geschriebene Chronik des Luzerners Melchior Ruß, ein 1511 in Uri verfaßtes Volksschauspiel u. a., erblickt in dem[396] Urner T. den Haupturheber der Befreiung und Stifter des Bundes im Rütli; die andre, die zuerst in dem um 1470 geschriebenen anonymen »Weißen Buch« zu Sarnen, dann in der 1507 gedruckten Chronik des Luzerners Etterlin erscheint, gibt Tells Geschichte nur als zufällige Episode und schreibt die Verschwörung gegen die Vögte vornehmlich dem Schwyzer Stauffacher zu. Erst Ägidius Tschudi (s. d. 1) hat die beiden Traditionen zu der stehend gewordenen Gesamtsage verknüpft und sie chronologisch festgelegt; im Laufe der Jahrhunderte bekam sie noch mancherlei Zusätze, bis sie durch J. v. Müller und Schiller Gemeingut wurde. Die Tellskapellen auf der Tellsplatte, in Bürglen, in der Hohlen Gasse stammen sämtlich erst aus dem 16. Jahrh. In Uri ließ sich keine Familie T. ermitteln; ein angebliches Erkenntnis der Urnerlandsgemeinde von 1387, das Tells Existenz bezeugen sollte, sowie die den Namen »Tello« und »Täll« enthaltenden Totenregister und Jahrzeitbücher von Schaddorf und Attinghausen sind als Erdichtungen und Fälschungen nachgewiesen. Die Sage vom Apfelschuß ist ein uralter indogermanischer Mythus, der in anderm Gewand auch in der dänischen (vgl. Toko), norwegischen und isländischen Heldensage (vgl. Egil) sowie anderwärts vorkommt, in der Schweiz eigenartig ausgebildet und im 15. Jahrh. zur Ausschmückung der Befreiungssage verwendet worden ist. Vgl. Huber, Die Waldstätte (mit einem Anhang über T., Innsbr. 1861); W. Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstätte (Leipz. 1867); Rilliet, Der Ursprung der schweizerischen Eidgenossenschaft (deutsch, 2. Aufl., Aarau 1873); Hungerbühler, Étude critique sur les traditions relatives aux origines de la Confédération suisse (Genf 1869); Meyer v. Knonau, Die Sage von der Befreiung der Waldstätte (Basel 1873); Rochholz, T. und Geßler in Sage und Geschichte (Heilbr. 1877) und Die Aargauer Geßler in Urkunden (das. 1877); Vaucher, Les traditions nationales de la Suisse (Genf 1885); Oechsli, Die Anfänge der schweizerischen Eidgenossenschaft (Zür. 1891); Gisler, Die Tellfrage (Bern 1895); Bernoulli, Die Sagen von T. und Stauffacher (Basel 1899); Joachim Meyer, Schillers. Wilhelm T.' auf seine Quellen zurückgeführt (2. Aufl., Nürnb. 1876); »Katalog der Tell-Ausstellung in Zürich« (1904); Heinemann, Tell-Ikonographie (Luzern-Leipz. 1902) und Tell-Bibliographie (Bern 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 396-397.
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