Volksschriften

[238] Volksschriften, Bücher, die Belehrung und Unterhaltung der bildungsbedürftigen breitern Volksschichten zum Zweck haben. Den Anfängen dieser Literatur begegnet man bereits nach der Erfindung des Buchdrucks in den Volksbüchern (s. d.), in Flugschriften und fliegenden Blättern. Ihre eigentliche Blüte begann gegen Ende des 18. Jahrh., als gleichzeitig mit dem pädagogischen Philanthropismus das Bewußtsein zur Herrschaft gelangte, daß geistige und sittliche Hebung der niedern Klassen über die Schule hinaus nicht bloß Sache der Kirche, sondern eine der wichtigsten Pflichten der gebildeten Gesellschaft überhaupt ist. Dieser Pflicht suchte man teils unmittelbar durch Popularisierung der Wissenschaft, teils mittelbar durch anregende Unterhaltung zu genügen. Die Schriften der erstern Richtung, obgleich unter den Begriff der V. fallend, entziehen sich zusammenfassender Beurteilung, indem sie mehr an die einzelnen Wissenschaften sich anlehnen. Am fleißigsten und glücklichsten ist und wurde seit der Mitte des 19. Jahrh. in dieser Art das Gebiet der Naturwissenschaften angebaut (Roßmäßler, Brehm, Krause [Carus Sterne], Bölsche, Francé u. a.). Im engern Sinne versteht man unter V. solche Bücher, Flug- oder Zeitschriften, die der nicht wissenschaftlich gebildeten Masse des Volkes gesunde geistige Nahrung in unterhaltender Form bieten. Als Urbild derartiger V. ist im Gebiete der deutschen Sprache Pestalozzis »Lienhard und Gertrud« (1781) zu betrachten. Unter den Zeitgenossen und ersten Nachfolgern Pestalozzis ragen Salzmann und R. Z. Becker (»Not- und Hilfsbüchlein«, 1787) hervor. Als spätere Meister volkstümlicher Unterhaltung sind vor allen J. P. Hebel (»Schatzkästlein«), Zschokke, Jerem. Gotthelf (Bitzius), Berth. Auerbach, Schaumberger, Ferd. Schmidt u. a. zu nennen. Eine beliebte Form, dem Volke gute Lektüre darzubieten, ist, namentlich nach Andrés und Hebels Vorgang im Anfang des 19. Jahrh., die der Volkskalender geworden (vgl. Kalender, S. 459). An Stelle der Aufklärungstendenz schob sich in den V. des letzten Jahrhunderts vielfach die christlich-religiöse; sie tritt besonders in den Schriften von G. H. v. Schubert, Caspari, Ahlfeld, Stöber, Horn (W. Örtel), Glaubrecht (Öser), E. Frommel u. a. in den Vordergrund. Unter den katholischen Verfassern sind L. Aurbacher, Alban Stolz, Herchenbach, Kolping, Konrad v. Bolanden (Bischoff) zu nennen. Der Verbreitung guter und billiger V. dienen außer den Volksbibliotheken besondere Volksbildungs- und Volksschriftenvereine, die durch Aussetzung von Preisen die Abfassung guter V. fördern oder gegen ermäßigtes Entgelt V. und ganze Volksbibliotheken liefern. Solche Vereine sind unter andern: der Zwickauer Verein zur Verbreitung guter und wohlfeiler V. (seit 1841), der Württemberger Volksschriftenverein (seit 1843), der Zschokke-Verein in Magdeburg (seit 1841), der Norddeutsche Volksschriftenverein in Berlin, der Nordwestdeutsche Volksschriftenverlag in Bremen, die Niedersächsische Gesellschaft[238] zur Verbreitung christlicher Schriften in Hamburg, der Österreichische Volksschriftenverein in Wien (1848), der Deutsche Verein zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag (1869), der Verein zur Förderung des Volkswohls in Berlin, die Deutsche Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (1871), der Verein für Massenverbreitung guter Schriften in Weimar (1890), der Volksbildungsverein zu Wiesbaden u. a. Immer mehr dringt jedoch die Überzeugung durch, daß bei der Einrichtung von Volksbibliotheken, Lesehallen etc. jede bevormundende, tendenziöse Auswahl der Lektüre zu vermeiden und die Hauptsache nicht ist, besonders ad hoc verfaßte V. zu verbreiten, sondern weitern Leserkreisen die nationale Literatur, soweit sie nicht streng wissenschaftliche Kenntnisse voraussetzt, zugängig zu machen. Großartige Mittel werden für Volksbibliotheken in Nordamerika und Großbritannien aufgebracht, auch in Frankreich sind sie in neuerer Zeit sehr gefördert worden. Vgl. Jannasch, Die Volksbibliotheken, ihre Aufgabe und Organisation (Berl. 1876); »Musterkataloge für Volksbibliotheken«, hrsg. vom Gemeinnützigen Verein in Dresden (ö. Aufl., Leipz. 1905) und von der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (6. Aufl., Hannov. 1892); Reyer, Entwickelung und Organisation der Volksbibliotheken (Leipz. 1893) und Handbuch des Volksbildungswesens (Stuttg. 1896, mit andern); Nörrenberg, Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und ihre Reform (2. Aufl., Kiel 1895); Bube, Die ländliche Volksbibliothek (4. Aufl., Berl. 1907); Apel, Die Verbreitung guten Lesestoffes (das. 1896); Aschrott, Volksbibliothek und Volkslesehalle (das. 1896); Jäschke, Volksbibliotheken, ihre Einrichtung und Verwaltung (Leipz. 1907); Beeger, Die pädagogischen Bibliotheken etc. der Welt (das. 1893); Pellisson, Les bibliothèques populaires à l'étranger et en France (Par. 1906); »Verwaltungsbuch für Volksbibliotheken, herausgegeben von der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung« (Berl. 1906); »Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen« (Leipz. 1900 ff., jetzt hrsg. von Liesegang) und Weiteres in den Artikeln »Jugendschriften, Bildungsvereine und Lesehallen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 238-239.
Lizenz:
Faksimiles:
238 | 239
Kategorien: