Griechische Literatur

[718] Griechische Literatur. 1. (vorhistorische) Periode (bis Ende des 8. Jahrh.). Auf eine mythische, die sog. vorhomerische Zeit (Orpheus, Musäus, Eumolpus, Linus etc.), folgt nach den Wanderungen der griech. Stämme in Kleinasien eine Entwicklung der großen nationalen Heldendichtung (Kämpfe vor Troja, Fahrten der von Troja heimkehrenden Helden), die durch wandernde Sänger, wie Phemios und Demodokos in der Odyssee, verbreitet, durch Homer ihren Abschluß fand (Ilias, Odyssee). Ihm steht als Vertreter der bes. in Böotien geübten religiös-didaktischen Dichtung Hesiod gegenüber.

2. Periode (bis zum Ende der Perserkriege). An die Homerische Heldendichtung schließen sich die Zyklischen Dichter (s.d.) an; die Hesiodische Periode findet in den mystisch-theol. Gedichten der Orphiker (Onomakritus in Athen) ihre Fortsetzung, aber auch die junge Philosophie bedient sich der epischen Form (Xenophanes von Kolophon, Parmenides von Elea, Empedokles von Akragas). Die Lyrik beginnt sich zu entwickeln, zunächst bei den Ioniern Kleinasiens die elegische Poesie, die im Distichon den Anfang der Strophenbildung aufweist; sie ist teils politisch-kriegerischen (Kallinus, Archilochus, Tyrtäus), teils erotischen (Mimnermus), teils politischen und gnomischen (Solon, Theognis, Phokylides) Charakters; daneben die bes. zu Spottversen, aber auch zu Versuchen in der Tierfabel gebrauchte iambische Poesie (Archilochus, Simonides von Amorgos, Hipponax). Die Lyrik im engern Sinne zerfiel bei den Griechen in die melische (das einfache Lied) der Äolier (Alcäus und Sappho auf Lesbos, Anakreon auf Teos) und die kunstreichere chorische der Dorier (Alkman, Stesichorus auf Sizilien, Ibykus von Rhegium, Simonides von Julis, Bacchylides, vor allen aber Pindar von Theben). Aus einem besondern Zweige der letztern, dem von dem Lesbier Arion in Korinth künstlerisch ausgebildeten Dithyrambus, erhob sich durch den Attiker Thespis (unter Pisistratus), der zwischen die Chorlieder Reden, Botenberichte und Zwiegespräche (Epeisodia, s. Episoden) einführte, die Tragödie, die, nach Abtrennung des Satyrdramas (Pratinas), durch Äschylus, der einen zweiten Schauspieler hinzufügte, die musikal. Form reicher ausbildete und die trilogische Komposition einführte, der Vollendung nahe gebracht wurde, während Phrynichus bereits histor. Stoffe behandelte. Ähnlich entwickelte sich aus den Umzügen bei den Dionysosfesten, den Kōmoi, die Komödie, die aus Megara durch Susarion nach Attika gebracht worden sein soll, während sie sich in Sizilien von der attischen verschieden entwickelte (Epicharmus, Phormis). In Ionien führten die Aufzeichnungen der Logographen (Hekatäus von Milet u.a.) und der Naturphilosophen (Thales, Anaximander und Anaximenes aus Milet, Heraklit von Ephesus) zur Begründung der Kunstprosa.

3. (klassische oder attische) Periode (bis zum Tode Alexanders d. Gr.). Das Drama tritt in den Vordergrund. Die drei großen Meister der Tragödie sind: Aischylus (würdevolle Erhabenheit), Sophokles (maßvolle Schönheit), Euripides (erschütternde Darstellung der Leidenschaft). Die Komödie erhält in Attika durch Chionides und Magnes eine neue Ausbildung und erreicht in Kratinus, Eupolis und vor allen Aristophanes ihre höchste Vollendung (sog. ältere attische [polit.] Komödie); nach dem Peloponnes. Kriege entwickelt sich die neuere attische (Intrigen- und Charakter-) Komödie, in der die Chorgesänge verschwinden (Anthiphanes, Eubulus, Anaxandrides u.a., später Menander, Philemon, Diphilus, Apollodorus, Philippides und Posidippus); in den Mimen (die Syrakusaner Sophron und Xenarchus) wird die poet. Form ganz abgestreift. Neben das Drama tritt die Prosaliteratur in den Mittelpunkt des Interesses. Herodot, »Der Vater der Geschichte«, bemächtigte sich des bedeutenden nationalen Stoffes der Perserkriege, Thukydides lieferte in seiner Geschichte des Peloponnes. Krieges das erste Muster einer mit histor. Kritik ausgeführten pragmatischen Geschichtschreibung; an ihn schlossen sich Xenophon und Kratippus, ferner Ktesias, Philistus; einen rhetorisch-histor. Stil schufen Theopompus von Chios, Ephorus von Kyme, dessen 30 Bücher Historien das erste Beispiel einer allgemeinen Weltgeschichte wurden. In der Beredsamkeit glänzten: Antiphon, Andocides, Lysias, Isokrates, Isäus, Lykurgus, Hyperides, Äschines, Dinarchus, vor allen Demosthenes. Hippokrates begründete die wissenschaftliche Arzneikunde, als Mathematiker und Astronomen sind Archytas von Tarent und Eudoxus von Knidos hervorzuheben.

4. (alexandrinische oder hellenistische) Periode (bis Augustus). Nach dem Untergange der griech. Freiheit wird Alexandria unter den Ptolemäern der Hauptsitz aller literar. Bestrebungen. Die G. L. verliert den nationalhellen. Charakter und gewinnt den der hellenistischen Weltliteratur (s. Alexandrinisches Zeitalter); die Gelehrsamkeit überwiegt, die Wissenschaften nehmen einen bedeutenden Aufschwung. Daneben erblüht neu die bukolische Poesie des Theokrit und seiner Nachahmer Bion und Moschus, die das Leben der Hirten und das Volksleben der Städte schildern, die mimiambische Poesie des Herodas, die an Hipponax und Sophron sowie an die neuere attische Komödie anknüpft, stellt kleine Szenen aus dem Alltagsleben mit überraschendem Realismus dar.

5. Periode (bis Justinian). Rom wird tonangebend in Wissenschaft und Kunst und Sammelplatz der griech. Schriftsteller, daneben bleibt Athen die Hochschule für Philosophie und Rhetorik. In der Geschichtschreibung zeichnen sich aus Diodor von Sizilien, Strabon (bekannter noch als geogr. Schriftsteller), Dionysius von Halikarnaß, Flavius Josephus, Plutarch, Appian, Dio Cassius, Herodian u.a., die Theorie der Beredsamkeit und des rhetorischen Stils entwickeln Dionysius von Halikarnaß, Apollodorus von Pergamon, Theodorus von Gadara, eine neue Schule der Sophisten bildet sich (Älius Aristides, Dio Chrysostomus), der Satiriker Lucian geißelt in seinen trefflich attisch geschriebenen Schriften die Gebrechen und Verkehrtheiten seiner Zeit, in Alexandria erleben die Wissenschaften der Grammatik, Metrik, Mathematik und Medizin eine zweite Blüte, christl. Schriftsteller bekämpfen das Heidentum und werden von Neupythagoreern und Neuplatonikern bekämpft, und noch im 4. und am Anfange des 5. Jahrh. treten mytholog. Epiker auf (Quintus Smyrnäus, Nonnus, Tryphiodorus und Kolluthus).

6. (byzantinische) Periode (bis zum Untergange des Byzant. Reichs). Am bedeutendsten sind die zahlreichen Schriftsteller auf dem Gebiete der Geschichte und Chronistik, gesammelt in den »Byzantinae historiae scriptores« (42 Bde., 1654-1711) und im »Corpus scriptorum historiae Byzantinae« (50 Bde., 1828-97), außerdem der Geograph Kosmas Indikopleustes, der Kirchenhistoriker Euagrius, der Homererklärer Eustathius, der Grammatiker Planudes, der Philosoph Michael Psellos u.a. – Über die gegenwärtige Literatur s. Neugriechische Literatur.

Vgl. K. O. Müller (4. Aufl. 1882-84), Bernhardy (4. u. 5. Bearbeitung, 1876 fg. u. 1892), Bergk (1872-94), Kopp (6. Aufl. 1901), Christ (4. Aufl. 1904); Susemihl, »G. L. der Alexandrinischen Zeit« (1891-92); Krumbacher, »Geschichte der byzant. Literatur« (2. Aufl. 1897).

Quelle:
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 718.
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