Gewerbekrankheiten

[792] Gewerbekrankheiten (Fabrikkrankheiten), den einzelnen Gewerben in gewissem Sinn eigentümliche Krankheiten, können akut, subakut oder chronisch, mit dauerndem Siechtum verbunden sein oder teilweise oder gänzliche Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Sie kommen hauptsächlich zustande: 1) durch Überanstrengung des ganzen Körpers oder seiner einzelnen Teile; 2) durch Einwirkung spezifischer Schädlichkeiten, giftiger oder sonst schädlicher und infektiöser Substanzen; 3) durch abnorme Verhältnisse oder starke Schwankungen der Temperatur, der Feuchtigkeit, der natürlichen oder künstlichen Beleuchtung; 4) durch soziale Verhältnisse, welche die Ernährung, die Verteilung von Schlaf und Wachen, das Familienleben beeinflussen; 5) durch Unfälle aller Art.

Krankheiten des Skeletts, der Gelenke und der Bänder kommen durch andauerndes und oft wiederkehrendes Verharren in derselben Haltung, durch Bewegungen in stets gleichem Sinn oder durch Überlastung zustande. Hierher gehören: Rückgratsverkrümmungen, Mißgestaltung der Kniee (Bäckerbeine), Plattfüße, mangelhafte Entwickelung des Brustkastens (gebeugte Haltung des Oberkörpers), Subluxationen einzelner Gelenke (Tischler, Schuhmacher, Bäcker), chronische Entzündungen, Wasseransammlungen in stark gedehnten Gelenken etc. Dazu kommen Knochenbrüche, Luxationen, Entzündungen des Schleimbeutels unter der Kniescheibe (nach vielem Knien), Phosphornekrose. Krankheiten der Muskeln, Sehnen, Sehnenscheiden etc. Durch Überanstrengung entstehen Hypertrophie der Armmuskeln, Abreißungen der Sehnen von den Knochen (Hebung schwerer Lasten); durch Übermüdung kann die Ernährung eines Muskels unheilbar leiden. Entzündungen der Sehnenscheiden führen zu Verkrümmungen (Handarbeiter, Ziegelarbeiter, Landbriefträger). Erkrankungen der Haut von der Schwiele bis zur Entzündung und Blasenbildung, Abszeß, Geschwüre, Eitersenkungen, tiefgehende Phlegmonen treten auf, wenn die Haut dauerndem Druck durch Werkzeuge ausgesetzt ist (z. B. dem Druck des Knieriemens beim Schuhmacher) oder mit ätzenden oder infektiösen Stoffen in Berührung kommt. Akne und Furunkel findet man häufig bei Gewerben mit Staubentwickelung, Verbrennungen bei Glasbläsern, Metallgießern etc. Unter den Erkrankungen der nervösen Apparate stehen die Beschäftigungsneurosen (s.d.) obenan. Rheumatische Affektionen sind ungemein häufig bei Arbeitern, die großen Temperaturschwankungen, Erkältungen, Durchnässungen ausgesetzt sind. Sensibilitätsstörungen im Bereich der Hautnerven finden sich häufig bei wiederholter Einwirkung schädlicher Substanzen auf die Haut; gewisse Gifte (Blei, Kupfer, Quecksilber, Arsen)[792] affizieren direkt das Nervensystem. Psychosen, Kopfschmerz, Neurasthenien, bei Frauen hysterische Beschwerden sind häufig Folgen von Überanstrengung (Nachtarbeit, Überstunden). Erkrankungen der Sinnesorgane: Das Auge wird sehr häufig mechanisch verletzt, außerdem erkrankt es häufig an Kurzsichtigkeit und Sehschwäche bei Naharbeitern (Graveure, Feinmechaniker, Schriftsetzer, Juweliere), gefährlich werden auch strahlende Wärme und sehr intensives Licht (bei Heizern, Metallarbeitern, Glasbläsern), Augenzittern (Nystagmus) ist bei Bergleuten häufig. Das Gehör leidet durch sehr starke Geräusche (Kesselschmiede, Arbeiter in Walzwerken, bei Dampfhämmern, Lokomotivführer, Heizer). Sehr häufig sind Erkrankungen der Atmungsorgane, wie Nasen-, Rachen- und Kehlkopfkatarrhe durch Erkältungen, Staub, scharfe Gase und Dämpfe etc.; viel ernster sind die mannigfachen Lungenkrankheiten, die hauptsächlich durch Staub (Staubeinatmungskrankheiten, s. d.) und durch schädliche Gase (Gaseinatmungskrankheiten, s. d.) hervorgebracht werden. Durch Überanstrengung des Atmungsapparats bei schwerer Muskelarbeit tritt oft frühzeitig Emphysem auf, besonders wenn durch Druck, Belastung, oft wiederholten Muskelzug anatomische Veränderungen am Brustkorb eingetreten sind. Fast stets ist in diesen Fällen auch eine Erkrankung des Kreislaufapparats, besonders des Herzens, vorhanden. Hypertrophie, fettige Degeneration, Aneurysmen, Rupturen, Verletzungen des Klappenapparats sind besonders erwähnenswert (Schmiede, Schlosser, Steinträger, Müller, Kutscher). Bei Arbeitern, die viel stehen, bilden sich Krampfadern und Unterschenkelgeschwüre. Auch Erkrankungen des Verdauungsapparats sind häufig. Viele Gifte dringen auf diesem Weg in den Organismus ein. Am gefürchtetsten ist die Bleikolik. Chronische Magenkatarrhe kommen bei Säufern (im Schenkgewerbe) häufig vor, Störungen durch unzureichende Ernährung, sitzende Lebensweise, behinderten Blutkreislauf in den Unterleibsorganen, Darmkatarrhe, habituelle Verstopfung, Hämorrhoidalleiden finden sich in zahlreichen Gewerben. Brüche kommen besonders bei häufiger starker Muskelanstrengung vor. Erkrankungen des Geschlechtsapparats treten besonders bei Frauen auf. Neigung zu Aborten und Frühgeburten ist Folge von Überanstrengung (Maschinennähen, Nachtarbeit, anhaltendes Sitzen). Schwangere sollten von der gewerblichen Arbeit möglichst, in den letzten Monaten durchaus zurückgehalten werden. Das Zusammensein von Arbeitern beiderlei Geschlechts begünstigt die Verbreitung syphilitischer Erkrankungen. Eine sehr hervorragende Rolle spielen Vergiftungen, da es sehr schwer ist, beim Arbeiten mit Giften die Aufnahme derselben in den Körper auf die Dauer zu verhüten. Am häufigsten sind Vergiftungen durch Blei, Quecksilber, Arsen, Zink, Kupfer, Chrom, Phosphor, Anilin, Nikotin, Kohlenoxyd, schweflige Säure, salpetrige Säure, Ammoniak, Chlor, Schwefelwasserstoff, Arsen- und Phosphorwasserstoff, dann Ätzungen durch scharfe Säuren und Laugen. Von Infektionskrankheiten wird besonders die Schwindsucht durch gewerbliche Tätigkeit vielfach verbreitet und zwar durch den Auswurf der Kranken, der als Staub wieder eingeatmet wird, ferner wird die Entwickelung von Lungenschwindsucht häufig begünstigt durch die oben genannten Staubeinatmungskrankheiten. Auch Pocken, Cholera, Typhus, Flecktyphus, Scharlach, Masern etc. finden gelegentliche Verbreitung durch die Gewerbebetriebe. Milzbrand kann durch Häute und Lumpen (Hadernkrankheit) übertragen werden. Die Bekämpfung der G. ist Aufgabe der Gewerbehygiene (s.d.), die im Deutschen Reich durch das Arbeiterschutzgesetz (Reichsgesetz vom 1. Juni 1891) erleichtert wird. Vgl. Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter (Leipz. 1871–78, 2 Tle.); Layet, Allgemeine und spezielle Gewerbepathologie und Gewerbehygiene (deutsch, Erlang. 1877); Popper, Lehrbuch der Arbeiterkrankheiten und Gewerbehygiene (Stuttg. 1882); Heinzerling, Die Gefahren und Krankheiten in der chemischen Industrie und die Mittel zu ihrer Verhütung und Beseitigung (Halle 1885–87,9 Hefte); Sommerfeld, Handbuch der G. (Berl. 1898, Bd. 1); Bauer, Les industries insalubres; Bericht für die internationale Vereinigung für Arbeiterschutz (Jena 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 792-793.
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