Syphĭlis

[152] Syphĭlis (Morbus venereus, Lues venerea, Lustseuche), eine durch Übertragung eines eigenthümlichen Contagiums auf einen gesunden Menschen entstehende, Anfangs örtliche', später nach dem Übergänge des Krankheitsgiftes in die Säftemasse des Körpers allgemeine Krankheit des Organismus, welche nach u. nach die verschiedensten Organe des Körpers ergreift. Die S. trat gegen Ende des 15. Jahrh. zuerst in Europa auf, verbreitete sich seuchenartig über alle Länder u. hat sich muthmaßlich aus der Lepra entwickelt, mit welcher sie heute noch sehr häufig in Gesellschaft auftritt u. große Ähnlichkeit zeigt. Die S. zeigte sich in Europa zuerst 1493 bei der Belagerung von Neapel durch die Franzosen, daher die Krankheit auch Mal de Naples u. Morbus gallicus (Franzosenkrankheit) genannt wurde. Über den ersten Ausgangsherd der S. ist viel gestritten worden. Bei ihrem ersten Auftreten im 15. Jahrh. zeigte sie sofort einen eigenen, sehr heftigen Charakter u. wurde,[152] wie noch heute, durch Übertragung eines eigenthümlichen, in seinem innersten Wesen bis jetzt unerkannten, an den syphilitischen Eiter gebundenen Contagiums (syphilitisches Gift, Contagium) weiter getragen. Außerdem kann aber die S. erfahrungsgemäß auch durch das Blut, den Samen u. die Ammenmilch übertragen werden. Von mehren Seiten wurde die Nothwendigkeit der Annahme eines specifisch syphilitischen Giftes bestritten, doch haben die bes. von Ricord veranstalteten Inoculationsversuche, d.h. die absichtliche Übertragung des syphilitischen Giftes auf eine gesunde Hautfläche eines lebenden Menschen, ähnlich wie bei der Kuhpockenimpfung, die Richtigkeit der Annahme außer Zweifel gestellt. Die häufigste Veranlassung der Ansteckung gibt der Coitus u. andere innige Berührungen mit syphilitisch erkrankten Personen, ferner der Gebrauch mit syphilitischem Gift verunreinigter Appartements, Löffel, Trinkgeschirre, Tabakspfeifen, Kleidungsstücke. Am meisten geneigt zur Ansteckung ist die Schleimhaut der Genitalien, des Afters, der Augen, der Nase, des Mundes, der Hodensack, die Lippen, die Brustwarzen. Auch scheint die S. bei allgemeiner syphilitischer Dyskrasie ohne örtliche Ansteckung auf gesunde Menschen, bei innigem Zusammenleben, wenigstens wie bei Eheleuten, übertragen werden zu können, od. der Krankheitsstoff wird dem Ei beim Zeugungsact od. dem Fötus durch das Blut der Mutter (S. hereditaria), od. dem Säugling durch die Ammenmilch mitgetheilt. Ist syphilitische Ansteckung des Kindes beim Durchgang durch die äußeren Genitalien einer syphilitischen Mutter erfolgt, so nennt man sie S. congenita. Gewiß ist, daß manche Persönlichkeiten zur Ansteckung mehr geneigt sind als andere u. die Ursache davon scheint in verschiedenen Umständen zu liegen. Ob es eine vollkommene Immunität gewisser Individuen von der S. gibt, läßt sich nicht bestimmen, aber auch durchaus nicht läugnen. Früher rechnete man zu den syphilitischen Erscheinungen außer dem Chanker auch die Gonorrhöe, doch betrachtet man die Blenorrhöe der Geschlechtsteile heutzutage als einfach katarrhalische, durch Übertragung scharfer Secrete bedingte Affection der betreffenden Schleimhäute, welche mit der S. nichts gemein haben, obschon z.B. der Tripper nicht selten mit syphilitischen Geschwüren der Harnröhrenschleimhaut complicirt ist. Auch haben die Inoculationsversuche gezeigt, daß reines Trippersecret keinen Chanker erzeugt.

Man theilt die syphilitischen Erscheinungen in primäre, secundäre od. constitutionelle u. wohl auch in tertiäre ein. A) Das primäre syphilitische Geschwür (primärer Chanker) kommt an verschiedenen Körperstellen vor, am häufigsten aber an der äußeren Haut des Penis, auf der Eichel, an der inneren od. äußeren Fläche der Vorhaut, auf der Harnröhren- od. Scheidenschleimhaut, an den großen od. kleinen Schamlippen, am Muttermunde, am Hodensack u. in der Leistengegend. Der Hergang ist folgender: Nach 3_– 8 Tagen bildet sich an der angesteckten Stelle ein Bläschen, welches schnell zur Pustel reist u. sich in ein Geschwür verwandelt. Das Geschwür vergrößert sich nach Tiefe u. Breite u. nimmt einen harten zackigen Rand u. speckigen Grund an, fault wohl auch nach 3_– 4 Wochen unter Bildung von Granulationen von der Mitte in den Rändern aus, u. zwar mit narbiger Einziehung. Oft bleibt die Härte des Zellgewebes noch längere Zeit zurück u. bricht sogar, wenn die Dyskrasie nicht völlig getilgt ist, bisweilen später wieder aus. Man unterscheidet verschiedene Formen, von denen drei Hauptformen von Bedeutung sind: der oberflächliche (einfache) Chanker mit geringer Verhärtung der Geschwürsränder; der Hunter'sche Chanker (indurirter Chanker) mir vertieftem, verhärtetem u. speckigem Grunde; u. der phagedänische Chanker, er hat eine hervorstechende Neigung um sich u. in die Tiefe zu fressen, hat ein schlaffes, mißfarbiges, schmutzig gelbliches od. blauröthliches Ansehen, die Geschwürsfläche überdeckt sich zuweilen mit einem membranösen, speckigen Exsudate (phagedänisch-diphtheritischer Chanker). Die Form des Chankers erleidet je nach dem Sitze desselben mannigfache Abänderungen. Der Chanker ist bald mehr, bald weniger, oft auch gar nicht schmerzhaft. Ganz sichere Schutzmittel, gegen die syphilitische Ansteckung gibt es nicht, anzurathen sind aber Waschungen der Geschlechtstheile nach verdächtigem Coitus mit Urin, verdünntem Chlor- od. Kalkwasser etc. In neuester Zeit hat man diesen Schutz zu ermöglichen gesucht durch die sogenannte Syphilisation, aufgestellt von Auzias-Turenne, welcher durch successive Inoculationen mit syphilitischem Gifte den Menschen gegen constitutionelle S. zu schützen sucht, indem dadurch der Organismus gleichsam übersättigt u. so gegen fernere Einwirkung des Giftes unempfänglich gemacht werde, ähnlich wie man das von, der Vaccination angenommen. Die Academie de médecine fand sich aber 1852 veranlaßt die Syphilisation aus medicinisch physiologischen u. moralischen Gründen zu verwerfen. Auch als Heilmittel der S. hat sich die Syphilisation nicht bewährt. Den Chanker heilt man in den ersten 5–6 Tagen am besten durch Zerstörung des Giftes mittelst Ätzung (abortive Behandlung); ist aber das Geschwür bereits in das zweite Stadium getreten u. der Chanker inducirt, dann ist eine innerliche Behandlung unerläßlich. Ost heilen oberflächliche Chanker von selbst. Im Allgemeinen kann man annehmen, daß der Chanker, sobald er in das Stadium der Verhärtung getreten, secundäre Erscheinungen bedingt, dadurch, daß das syphilitische Gift in die Säftemasse übergetreten ist; andererseits scheinen aber vorschnell heilende Chankergeschwüre eben so leicht zu secundären Erkrankungen Veranlassung geben zu können. B) Nachdem das syphilitische Gift in die allgemeine Säftemasse übergegangen, tritt eine Reihenfolge von Erscheinungen auf, welche man unter dem Namen secundäre od. constitutionelle S. zusammenfaßt. Sie tritt in der Regel erst einige Monate, zuweilen erst Jahre lang nach dem Verschwinden der primären Affection ein, kennzeichnet sich als allgemein chronische Bluterkrankung (syphilitische Dyskrasie) u. geht in verschleppten Fällen mit Abmagerung, Gliederschmerzen, ermattenden Schweißen u. Störungen des Nervenlebens einher. Die secundäre S. zeigt sich in verschiedenen Gebilden des Organismus. In den Schleimhäuten, bes. der Mund-, Schlund- u. Nasenschleimhaut, gibt sie sich durch entzündliche Reizung mit kupferartiger Röthe u. hervorragenden Bläschen (z.B. als Angina syphilitica) zu erkennen, welche letztere sich nicht selten in Geschwüre verwandeln u. so zu Zerstörungen des Gaumens u. der Zunge führen, eitrig schleimigen Ausfluß aus der Nase mit Verlust des Geruches [153] (Okaena syphilitica), Schlingbeschwerden, Heiserkeit, näselnde Stimme bedingen. Auf der äußeren Haut kann sie alle nur möglichen Formen acuter u. chronischer Exantheme annehmen u. zeigt einige charakteristische, doch nicht immer deutlich Hervortretende Merkmale in Bezug auf Farbe u. Form (Syphiliden, s.d.). Die Farbe ist eigenthümlich braunroth (kupferig), die Form zwar im Allgemeinen rund, doch je nach dem Sitz mannigfach ändernd. Man unterscheidet: syphilitische Hautflecke (Maculae syphiliticae), syphilitische Knötchen (Papulae syph.), syphilitische Krätze (Scabies syph.), schuppige Syphiliden (Squama syph. Psoriasis u. Lepra syph.), syphilitische Bläschen (Vesiculae syph.), syphilitische Blasen (Bullae syph., Pemphigus syph., Rhypia syph.), mehr bei Neugeborenen (P. syph. neonatorum) als Erwachsenen, venerische Pocken od. Blattern (Pustulae syph.), syphilitische Hauttuberkeln (Tubercula syph.); größere Tuberkeln bilden den Lupus syph., zerfallen in Geschwüre u. fressen bis auf den Knochen ein, an der Stirn z.B. (Corona Veneris), od. folgen der Richtung der Hautfalten (syphilitische Nhagaden). Ost erkranken die Haare u. fallen aus, syphilitische Kahlköpfigkeit (Alopecia syph.), od. es entzünden sich die Nagelwurzeln (Onyxis syph.). Am häufigsten bilden sich Auswüchse, sogenannte Feigwarzen od. Feuchtwarzen (Condyloma), bes. gern an den Grenzen der Schleimhäute, daher an den großen u. kleinen Schamlippen u. am After, seltener an andern Körperstellen; sie erscheinen in verschiedener Form als unter der Haut liegende Körnchen (Condylomata subcutanea), in spitziger Form (C. acuta), gestielt, feigenähnlich (Fici, Mariscae), maulbeerförmig (Mora), schwammartig (Fungi), blumenkohlartig, hahnenkammförmig (Cristae) u. in mannigfacher Weise wuchernd (Vegetationes syph.). Zuweilen tritt im Gefolge der S. eine eigenthümliche Entzündung der Regenbogenhaut des Auges auf (Iritis syph.). Die syphilitischen Affectionen der Knochenhaut, der Knochen u. Knorpel, von Manchen zur tertiären S. gerechnet, geben unter mehr od. weniger heftigen, bes. Nachts auftretenden Schmerzen (Dolores osteocopi) Veranlassung zur Bildung von Ablagerungen zwischen Beinhaut u. Knochen, Gummata durch Erhärtung in Tophi übergehend, welche entweder wieder verschwinden, od. durch Eiterung die Weichtheile durchbohren, od. zu Zerstörung des Knochens führen. C) Diese sogenannten tertiären, in der neueren Zeit immer seltener werdenden syphilitischen Erscheinungen hat man mancherseits auf den früheren Mißbrauch des Quecksilbers zurückführen zu müssen geglaubt.

Der syphilitischen Cur steht eine große Menge der verschiedensten Heilmittel u. Heilmethoden zu Gebote, u. zwar unterscheidet man: a) die einfache Behandlung (Traitement simple), bestehend in knapper Diät u. regelmäßigen Abführungen; b) die Mercurialbehandlung, u. zwar in zwei Anwendungsformen, deren eine die Salivationsmethode (Gebrauch des Quecksilbers bis zum Eintritt des Speichelflusses, welcher, wenn nöthig, unterhalten wird), deren andere die Extinctionsmethode genannt wird u. darin besteht, die Quecksilberpräparate so zu reichen, daß man es nie bis zum wirklichen Eintritt der Salivation kommen läßt. Früher wurde das Quecksilber auch noch in Salbenform durch die Haut dem Körper einverleibt (Inunctions-Schmiercur), unter denen sich bes. die Louvrier-Rustsche Credit zu verschaffen wußte; c) Behandlung mit Jod u. Jodkali, die in der neuesten Zeit am meisten beachtete; d) Behandlung mit Gold, Silber, Kupfer, Mineralsäuren u. Alkalien; sie steht der mit Quecksilber u. Jod bei Weitem nach; e) Behandlung mit Pflanzenstoffen, meist in Form von Tisanen u. Syrupen, welche durch Beförderung der Haut-, Darm- u. Nierenthätigkeit wirken, jetzt vorzüglich als Beihülfe des Mercurs u. Jods gebraucht. Die beiden Hauptmittel dieser Klasse sind Sassaparille u. Guajac (Zittmann'sches Decoct).

Verschiedene, meist in Küstenländern endemische, der S. ähnliche Krankheitsformen befaßt man unter dem Namen Syphiloide (S. spuria, Pseudosyphilis), scheinen aber mehr dem leprösen Krankheitsprocesse anzugehören; hierher gehören die Radesyge, die Dithmarsische Krankheit, die Frambösia, die Sibbens, der Scherlievo, die Falcadine etc. Die fleischliche Vermischung einer mit der S. behafteten Person wird nach Landesgesetzen gewöhnlich strenger bestraft. Eine Person, welche Hurerei als Gewerbe treibt, u. ein Kuppler werben jedes nach dem königlich sächsischen Strafgesetzbuche in der Regel mit drei- bis sechswöchentlicher, ist die Weibsperson syphilitisch, mit sechsmonatlicher bis einjähriger Arbeitshausstrafe bestraft. Vgl. Fracastori Syphilis (lateinisches Epos in drei Gesängen), Verona 1530, u. Ausg. von Choulant, Lpz. 1830; Handschuch, Die syphilitischen Krankheitsformen u. ihre Heilung, München 1831; Albers, Erkenntniß u. Cur der syphilitischen Hautkrankheiten, Bonn 1832; Österlen, Historisch-kritische Darstellung des Streites über die Einheit od. Mehrheit der venerischen Contagien, Stuttg. 1836; Osterrieder, Die vorzüglichsten Formen der S., Augsb. 1837; Behrend, Syphilidologie, Lpz. 1839–45, 7 Bde.; Ricord, Untersuchungen über die Anwendung der Inoculation, Reutl. 1838; Ricord, Praktische Abhandlung über die venerischen Krankheiten, aus dem Französischen von St. Müller, Lpz. 1838; Lippert, Die Pathologie u. Therapie der venerischen Krankheiten nach Ricords Vorträgen, Hamb. 1846 u. 1852; Desruelles, Briefe über die venerischen Krankheiten, Lpz. 1846; Simon Ricords Lehre von der S., kritisch beleuchtet, Hamb. 1851 u. 1852; Vidal de Casfis, Traité des malad. vener., 1852 (deutsch Lpz. 1853); Schlesinger, Therapeutisches Repertorium der Syphilidologie, 2. Ausg. Lpz. 1851; Cazenave, Die Syphiliden, aus dem Französischen von Walther u. Streubel, Lpz. 1844 (nebst Atlas); Moj'sisovics, Darstellung einer sicheren u. schnellen Heilmethode der S. durch Jodpräparate, Wien 1845; Michaelis, Compendium der Lehre von der S., ebd. 1859.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 17. Altenburg 1863, S. 152-154.
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