Zahl

[811] Zahl (arithmos, numerus) ist die Heraushebung (Unterscheidung) und Zusammenfassung einer gleichartigen Mannigfaltigkeit zur (complexen) Einheit, sie entsteht durch (primäres) Zählen, d.h. durch wiederholte Setzung der Einheit und Verbindung, Synthesis der Einheitssetzungen. Das Zählen ist ein zeitlicher Vorgang, die (fertige) Zahl hingegen abstrahiert nicht bloß von allem qualitativen Inhalt, der für sie gleichgültig ist, nicht in Betracht kommt –, sondern auch von räumlich-zeitlichen Bestimmungen. Das Zählen kann ebenso gut an Objecten der Außenwelt als an Vorstellungen, Denkacten u.s.w. vorgenommen werden, es ist in seiner Gesetzmäßigkeit unabhängig von der Existenzart des zu Zählenden. Die Zahlgesetze, wurzelnd im Wesen des Denkens überhaupt, gelten daher unbedingt für alle möglichen Inhalte. sie sind rein formaler Natur. Der Zahlbegriff hat seine Quelle in der Bewußtseinstätigkeit, ist insofern a priori (s. d.), kommt aber ursprünglich nur am Erfahrungsinhalte zur Ausbildung, durch welche auch weiterhin die Bestimmtheit (Größe) der Zahlen bedingt ist, so daß (teilweise) die Zahl (Anzahl) ein objectives Fundament besitzt. Doch darf deswegen die Zahl noch nicht zu einer metaphysischen Wesenheit hypostasiert werden, wie dies seit den Pythagoreern zuweilen geschehen ist.

Nach der Lehre der Pythagoreer ist die Zahl das Wesen (s. d.) der Dinge. die Principien der Zahlen, das Gerade und Ungerade (Unbegrenzte und Begrenzte, s. Peras), sind auch die Principien der Dinge. Die Dinge sind eine »Nachahmung« (mimêsis) der Zahlen, welche letztere substantiell Wesenheit besitzen, die Eigenschaften der Dinge bestimmen: metaphysisch – quantitative Weltanschauung. Alles ist nach Zahlenverhältnissen geordnet, wird durch Zahl erkannt (Philol. Fragm., Mull. 13). Die arithmôn stoicheia sind zugleich die Elemente der Dinge, nämlich to artion kai to peritton (apeiron, peperasmenon, perainonta), aus welchen alle Verhältnisse entstehen. 'Archas arithmous ... hypetithento, hoti edokei autois to prôton archê einai kai to asyntheton (Alex. Aphrod. in Arist. Met. I, schol. Arist. p. 551a). arithmous einai phasin auta ta pragmata (Aristot., Met. I 6, 987 b 28). hoi men gar Pythagoreioi mimêsei ta onta phasin einai tôn arithmôn (l. c. I 6, 987 b 11). Daß sich diese Ansicht aus der Beschäftigung der Pythagoreer mit der Mathematik ergeben, sagt Aristoteles: hoi kaloumenoi Pythagoreioi tôn mathêmatôn hapsamenoi prôton tauta proêgagon, kai entraphentes en autois tas toutôn archas tôn ontôn archas ôêthêsan einai pantôn. epei de toutôn hoi arithmoi physei prôtoi, en de tois arithmois edokoun theôrein homoiômata polla tois ousi kai gignomenois, mallon ê en pyri kai gê kai hydati, hoti to men toiondi tôn arithmôn pathos dikaiosynê, to de toiondi psychê kai nous, heteron de kairos kai tôn allôn hôs eipein hekaston homoiôs. eti de tôn harmoniôn en arithmois horôntes ta pathê kai tous logous. hoi [811] d'arithmoi pasês tês physeôs prôtoi, ta tôn arithmôn stoicheia tôn ontôn stoicheia pantôn hypelabon einai, kai ton holon ouranon harmonian einai kai arithmon. kai hosa eichon homologoumena deiknynai en te tois arithmois kai tois harmoniais pros ta tou ouranou pathê kai merê kai pros tên holên diakosmêsin tauta synagontes ephêrmotton ... phainontai dê kai houtoi ton arithmon nomizontes archên einai kai hôs hylên tois ousi kai hôs pathê te kai hexeis, tou d' arithmou stoicheia to t' artion kai to peritton. toutôn de to men apeiron, to de peperasmenon, to d' hen ex amphoterôn einai toutôn kai gar artion einai kai peritton, ton d' arithmon ek tou henos, arithmous de, kathaper eirêtai, ton holon ouranon (Met. I 5, 985 b 23 squ.). hoi de Pythagoreioi dia to horan polla tôn arithmôn pathê hyparchonta tois aisthêtois sômasin, einai men arithmous epoiêsan ta onta, ou chôristous de, all' ex arithmôn ta onta (Met. XIV 3, 1090 a 20 squ.). – gnômonika gar ha physis tô arithmô kai hagemonika kai didaskalika tôn aporoumenô pantos kai agnooumenô panti. ou gar ês dêlon oudeni ouden tôn pragmatôn oute autôn poth' hauta oute allô pot' allo, ai mê ês arithmos kai ha toutô essia. nyn de houtos kattan psychan harmosdôn aisthêsi panta gnôsta kai potagora allalois kata gnômonos physin apergazetai, sômatôn kai schizôn tôs logôs chôris hekastôs tôn pragmatôn tôn te apeirôn kai tôn perainontôn. idois de ka ou monon en tois daimoniois kai theiois pragmasi tan tô arithmô physin kai tan dynamin ischyousan, alla kai en tois anthrôpinois ergois kai logois pasi panta, kai kattas damiourgias tas technikas pasas, kai kattan mousikan ... pseudos de oudamôs es arithmon empitnei (PHILOLAUS, Stob. Ecl. I, 8). – In seiner letzten Periode bestimmt PLATO die Ideen (s. d.) als (metaphysische) Zahlen (vgl. Aristot., Met. I, 6. XIII. XIV, 1. Simplic. ad Phys. 247, 256 Dox. D.). Hypostasiert werden die Zahlen auch von den Neupythagoreern. Diese sehen in den Zahlen logous en tê hylê (vgl. Heinze, Lehre vom Logos, S. 180). Nach MODERATUS ist die Eins das Symbol der Einheit, die Ursache der Harmonie, die Zwei aber das Symbol der Anderheit, der Veränderung (Porphyr., Vit. Pythag. 48 ff.). Die Zahl ist ein 'systêma monadôn, ê propodismos plêthous apo monados archomenos kai anapodismos eis monada katalêgôn (Stob. Ecl. I, 18). Nach NIKOMACHUS sind die Zahlen als Urbilder der Dinge im göttlichen Geiste. Die Zahl ist plêthos hôrismenon (Arithm. I, 7. vgl. Überweg-Heinze, Grundr. I9, 362. Zeller, Philos. d. Griech. III, 23, 120 f.). – Nach der Kabbalâ sind Zahlen und Buchstaben Elemente des göttlichen Wortes (Sohar. s. Sephiroth). Als Urbilder der Dinge werden die Zahlen von den »treuen Brüdern von Basra« (2. Hälfte d. 9. Jahrh.) bestimmt. -NICOLAUS CUSANUS erblickt in der (göttlichen) Zahl das Urbild der Dinge. Die Zahl ist »ratio explicata« (De coniect. I, 4). Die unendliche Einheit ist Grund und Anfang der Zahl. Nach FRANZ. ZORZI ist alles in der Welt nach Zahlen geordnet. Zwischen irdischer und himmlischer Welt besteht eine Harmonie. Die Seele ist eine vernünftige Zahl (De harmonia mundi, 1549). –

ARISTOTELES definiert die Zahl als die Menge des Gemessenen, der Maße (plêthos memetrêmenon kai plêthos metrôn). Daher ist die Eins (hen) noch keine Zahl: oude gar to metron metra, all' archê kai to metron kai to hen (Met. XIV 1, 1088 a 5 squ.).esti gar arithmos plêthos heni metrêton (Met. X 6, 1057 a 3). to gar plêthos adiairetôn estin arithmos (Met. XI 9, 1085 b 22). Die Zahl gehört zu den aisthêta koina (De anim. II, 6, 3). Über NIKOMACHUS und MODERATUS s. oben. Nach EUKLID ist die Zahl to ek monadôn synkeimenon[812] plêthos (Elem. VII). So auch BOËTHIUS: »Numerus est acervus ex unitatibus profusus.«

Nach JOH. PHILOPONUS setzt die sinnlich-anschauliche Tätigkeit der Seele die Vielheit, der bestimmte Zahlbegriff aber ist ein Denkproduct (vgl. Siebeck, Gesch d. Psychol. I 2, 351). -Nach ALANUS AB INSULIS ist die Zahl »naturalis discretorum summa«. Nach THOMAS ist die Zahl »multitudo mensurata per unum« (Sum. th. I, 7, 4c), »aggregatio unitatum« (7 phys. 8). Sie entsteht »per divisionem continui« (De pot. 3, 16 ad 3). So auch DUNS SCOTUS. Dieser unterscheidet: »numerus essentialis« (aus der Teilung der ersten göttlichen Einheit), »numerus naturalis« oder »formalis«, »numerus accidentalis« (die mathematische Zahl), die Zahl, durch welche gezählt wird. – Nach SUAREZ ist die Zahl weder Substanz noch Accidens, sondern eine Collection von Accidenzen zur Einheit (Met. disp. 41, sct. l, 16). Die Zahl ißt nicht ein Geschöpf des Denkens, sondern wird von der Vernunft erkannt (l. c. sct. 1, 18). MICRAELIUS bestimmt: »Numerus est compositarum unitatum aggregatio« (Lex. philos. p. 721). »Numerus numerans seu formalis est, quem anima apprehendit abstractum ab omni materia. Dicitur etiam mathematicus.« »Numerus numeratus et materialis est, cuius unitates sunt res.« »Numerus transcendentalis, qui etiam reperitur in rebus incorporeis numero distinctis, distinguendus est a numero praedicamentali, qui est in genere quantitatis« (l. c. p. 722). »Numerare est intelligere multitudinem rerum« (ib.).

Nach HOBBES ist das Zählen eine »actio animi«, ein geistiger Act (De corp. C. 7, 7). Das Denken (s. d.) ist ein Rechnen. Daß die Zahl als solche nur begrifflich ist, betont DESCARTES: »Cum numerus non in ullis rebus creatis, sed tantum in abstracto sive in genere consideratur, est modus cogitandi duntaxat« (Princ. philos. I, 58). Doch entspringt die Anzahl aus der Unterscheidung der Dinge: »Numerus autem in ipsis rebus oritur ab earum distinctione« (l. c. I, 60). Auch SPINOZA bemerkt: »Numerum nihil esse praeter cogitandi seu potius imaginandi modos« (Epist. 29). Nach LOCKE ist die einfachste Vorstellung die der Einheit oder Eine. Jede Vorstellung führt diese Vorstellung mit sich, daher ist sie die bekannteste und allgemeinste Vorstellung (Ess. II, ch. 15, § 1). »Durch Wiederholung der 1 und Verbindung beider bildet man daraus die Sammelvorstellung, die man mit 2 bezeichnet. Wer so verfährt und zu der letzten Sammel-Zahl immer wieder eine Einheit hinzufügt und ihr einen Namen gibt, kann zählen oder hat die Vorstellung verschiedener Ansammlungen von Einsen, die voneinander verschieden sind, und zwar so weit, als er für jede dieser Zahlen Namen hat, und er diese Reihe von Zahlen mit ihren Namen behalten kann. Alles Zählen besteht nur in der Hinzufügung einer Eins mehr und in Belegung der neuen zusammengefaßten Vorstellung mit einem besondern Namen oder Zeichen, um sie unter den vorhergehenden und den nachfolgenden zu erkennen und von jeder größern oder kleinern Menge von Binsen zu unterscheiden« (l. c. § 5). Die Zahl gehört zu den primären Qualitäten (s. d., l. c. II, ch. 8, § 11). NEWTON definiert: »Per numerum non tam multitudinem unitatum quam abstractam qualitatis cuiusvis ad aliam eiusdem generis quantitatem, quae pro unitate habetur, rationem intelligimus« (Arithmet. universal. C. 2 f.). Nach LEIBNIZ ist die Zahl eine »idea adaequata« und (virtuell) angeboren. doch muß sie gelernt und an Beispielen erprobt werden (Erdm. p. 294. vgl. p. 209, 340, 361, 363, 399. Baumann, Lehr. von R., Z. u. M., II, 38 ff.). Als Collection[813] von Einheiten bestimmt die Zahl BONNET: »Si l'esprit, ne considérant dans un objet que l'existence, la désigne par le mot d'unité, de la collection de semblables unités il déduira la notion du nombre« (Ess. anal. XV, 255. vgl. Ess. de Psychol. ch. 14. vgl. CONDILLAC, Trait. d. sens. I, ch. 4, § 5 ff.). BERKELEY erklärt: »Daß die Zahl durchaus ein Product des Geistes sei..., wird einem jeden einleuchten, der bedenkt, daß das nämliche Ding eine verschiedene Zahlbezeichnung erhält, wenn der Geist es in verschiedenen Beziehungen betrachtet... Die Zahl ist so augenscheinlich relativ und von dem menschlichen Verstande abhängig, daß es kaum zu denken ist, daß irgend jemand ihr eine absolute Existenz außerhalb des Geistes zuschreiben könne... Und in jedem Betracht ist es klar, daß die Einheit sich auf eine besondere Combination von Ideen bezieht, welche der Geist willkürlich zusammenstellt« (Princ. XII). CRUIUS bestimmt die Zahl als einen Begriff, »darinnen man sich mehrere Dinge, in welchen man einerlei Wesen betrachtet..., inwiefern sie mehrere sind, vorstellt« (Vernunftwahrh. § 91. vgl. CHR. WOLF, Anfangsgründe sämtl. mathemat. Wissensch. 1710).

Nach KANT ist das reine Schema (s. d.) der Größe die Zahl, »welche eine Vorstellung ist, die die successive Addition von einem zu einem (gleichartigen) zusammen befaßt« (Krit. d. rein. Vern. S. 145). Die Zahl ist durch die Zeitanschauung bedingt. »Vergesse ich im Zählen, daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich nicht die Erzeugung der Menge, durch diese Hinzutuung von einem zu einem, mithin auch nicht der Zahl erkennen. denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis« (l. c. S. 118. s. Urteil, synthetisches).

Nach BIUNDE ist der Zahlbegriff ein reiner, apriorischer Begriff. Das Beisammenfinden mehrerer sehr gleicher Dinge bestimmt uns, Einheit zu denken. Der Zahlbegriff ist aus dem reinen Denkacte abstrahiert (Empir. Psychol. I 2, 49 ff.). Nach SCHELLING ist die Zahl »Größe mit Zeit verbunden« (Syst. d. tr. Ideal. S. 304). Im Sinne HEGELS erklärt K. ROSENKRANZ: Das Quantum, die Eins machet das Princip aller quantitativen Bestimmungen aus. »Die Eins ist die Urzahl, die Null ist die Unzahl im Sinn des Nichtdaseins einer quantitativen Begrenzung« (Syst. d. Wissensch. S. 32 f.). Nach ZEISING ist die Zahl die »einseitige und nur durch das Subject zusammengefaßte, Quantität der zeitlichen Erscheinungen« (Ästhet. Forsch. S. 119). Nach C. H. WEISSE wird die Eins erst etwas durch die Beziehung auf ein anderes. diese Beziehung ist es, was durch die Zahlen ausgesprochen wird. »Jede Zahl ist das, was sie ist, nicht durch äußerliches Zusammennehmen der vorausgesetzten Eins..., sondern ausdrückliches Aufheben der als für sich seiend vorausgesetzten Eins.« In jeder Zahl ist »die Unendlichkeit der übrigen Zahlen schon enthalten, aber eben nur als Unendlichkeit, nicht auch als Bestimmtheit« (Grdz. d. Met. S. 175 ff.). »Das successive Setzen der Zahlen, welches von dem außerphilosophischen Verstande als ein successives Verinnerlichen, nämlich Sich-aneignen des Außerlichen vorgestellt wird, wird von der philosophierenden Vernunft als ein successives Veräußerlichen der in jeder einzelnen Zahl, weil in der Zahl überhaupt, innerlichen Unendlichkeit erkannt« (l. c. S. 177 ff.). Die Zahl gehört, als Totalität der bestimmten Zahlen, zu den Kategorien (l. c. S. 182). Nach CHALYBAEUS ist die Zahl »das subjectiv-objective Resultat oder Positum des Zählens, welches das Einteilen (Unterscheiden – Verbinden) oder die subjective Synthesis selbst ist« (Wissenschaftslehre, S. 118). – Nach HERBART hat die Zahl mit[814] der Zeit »nicht mehr gemein als hundert andere Vorstellungsarten, die auch nur allmählich konnten erzeugt werden« (Psychol. als Wissensch. II, 162. ähnlich BENEKE, Syst. d. Log. I, 279). Der wissenschaftliche Begriff der Zahl ist der des »Mehr und Minder« (Psychol. als Wissensch. II, 163). Ähnlich wie Herbart (Psychol. als Wissensch. § 116), STIEDENROTH (Psychol. I, 250), WAITZ (Lehrb. d. Psychol. S. 602), G. SCHILLING (Lehrb. d. Psychol. S. 67) bestimmt VOLKMANN: »Die Zahl beruht auf dem Zählen, das Zählen aber ist ein Messen, und gemessen werden kann nur, was sich aus dem Gesamteindrucke zu den Formen des Nach- oder Nebeneinander erhoben hat.« »Die Vorstellung der Zahl ist... bedingt: erstich durch das Gegebensein einer Reihe, deren Glieder qualitativ gleich sind oder doch als gleich genommen werden, zweitens durch das Hervortreten und Festgehaltenwerden der Vorstellung des einzelnen Gliedes, drittens durch die Abmessung der Reihe durch das festgehaltene Reihenglied, und viertens durch die Zusammenfassung der Messungen in ein ganzes« (Lehrb. d. Psychol. II4, 113). Nach W. ROSENKRANTZ ist das Zählen »ein wiederholtes Selbstbestimmen des endlichen Geistes in der Zeit, und die Zahl entsteht durch ein Zusammenfassen aller dieser Bestimmungen in eine gemeinsame Selbstbestimmung« (Wissensch. d. Wissens II, 252). Nur durch Fortbewegung unseres Denkens von einem Inhalt zum andern können wir zählen (ib.). Nach HARMS ruht die Zahl »auf einem Systeme, auf einer gleichartigen Einheit, wodurch und woraus eine Vielheit geordnet wird. Sie bestimmt nach einer Regel das Verhältnis, in welchem eine Vielheit zu einer Einheit steht. Sie erkennt aus dem Ganzen das Einzelne. Die Zahl entsteht nicht durch Addition, sondern durch ein Ganzes, ein System, worin die Rechnungsarten stattfinden. Der Wert jeder Zahl ist durch ihr System bedingt« (Psychol. S. 7 f.). Nach V. KIRCHMANN ist die Zahl »eine Beziehung mehrerer gleichen und getrennten Gegenstände« (Kat. d. Philos.3, S. 40. vgl. BALLAUF, Grundlehr. d. Psychol. S. 191 f.). – F. A. LANGE führt die Zahl auf die Raumvorstellung zurück. Jede kleinere Zahl wird ursprünglich durch einen Sonderact der Synthesis der Anschauungen gebildet (Log. Stud. S. 140). Der Raum ist das Urbild aller discreten Größen. Die Zahl als Summe entsteht durch Zusammenfassung gleichartiger discreter Größen (l. c. S. 141).

Nach J. ST. MILL entsteht die Zahl durch Abstraction von Gruppen von Objecten. Alle Zahlen sind Zahlen von etwas, beziehen sich auf Dinge (Log. I, 2, ch. 6, § 2). Einen zeitlichen Charakter hat die Zahl nach HAMILTON, BAIN. die Zahl ist eine Reihe discreter Eindrücke (Log. II, 200 ff.). Als abstracte Vorstellung faßt die Zahl HELMHOLTZ auf (Zählen u. Messen, Philos. Aufs., E. Zeller gewidmet, 1887, S. 15 ff.). »Das Zählen ist ein Verfahren, welches darauf beruht, daß wir uns imstande finden, die Reihenfolge, in der Bewußtseinszustände zeitlich nacheinander eingetreten sind, im Gedächtnis zu behalten.« Die Zahlen sind zunächst »eine Reihe willkürlich gewählter Zeichen.... für welche nur eine bestimmte Art des Aufeinanderfolgens als die gesetzmäßige oder nach gewöhnlicher Ausdrucksweise natürliche von uns festgehalten wird« (l. c. S, 22. ähnlich KRONECKER, Üb. d. Zahlbegriff, Zeller-Festschr. 1887, S. 261).

Nach RIEHL entsteht die Zahl durch »wiederholte Setzung desselben Unterschiedes« (Philos. Krit. II 1, S. 73 f.). Nach B. ERDMANN sind die Zahlen »die nur durch ihre Stellung unterschiedenen Glieder einer Reihe von Gegenständen..., deren Aufeinanderfolge durch die... Gleichungen der grundlegenden[815] Rechnungsoperation bestimmt ist« (Log. I, 105). Nach SIGWART wird das, was als identisch gesetzt und von einem andern unterschieden wird, ebendarin ebenso wie dieses andere als eins gesetzt, »und indem wir diese zusammengehörigen Functionen in ihrer Beziehung zueinander ins Bewußtsein erheben, entsteht mit dem Begriffe des Eins auch der von Zuei, und damit die Grundlage aller Zahlbegriffe« (Log. II2, 40). »Aus dem Bewußtsein der Tätigkeiten, die wir bei jeder Vorstellung von Objecten vollziehen, erwächst das Zählen und der Begriff der Zahl« (l. c. S. 41). »Sämtliche Zahlbegriffe sind... nur in immer höheren Synthesen sich vollziehende Entwicklungen der formellen Functionen, die wir in jedem Denkacte überhaupt durch Einheitsetzen und Unterscheiden üben« (l. c. S. 41 f.). Nicht durch bloße Abstraction von den concreten Dingen entsteht die Zahl (l. c. S. 43). Jede Zahl ist »eine Vielheit als zusammengefaßt und abgeschlossen, und insofern als Einheit gedacht« (l. c. S. 45). Ähnlich lehrt teilweise JEVONS: »Number is but another name for diversity. Exact identity is unity, and with difference arises plurality«. »Plurality arises when and only when we detect difference«. Die abstracte Zahl ist »the empty form of difference« (Princ. of Science II, ch. 8, p. 156). Ähnlich lehrt SCHUPPE (Erk. Log. S. 405 ff.). SCHUPPE erklärt, »daß die Zahl immer unterscheidet oder eine Verschiedenheit voraussetzt und zugleich in der Zusammenfassung der Verschiedenen eine Einheit herstellt« (Log. S. 102). »Fingieren wir zwei absolut gleiche Dinge, so kann ihre Zweiheit bei ihrer sonstigen absoluten Ununterscheidbarkeit nur noch darin bestehen, daß dieses qualitativ Eine an zwei verschiedenen Stellen im Raume wahrnehmbar ist. Wenn nun auch die Qualitäten sieh vielfach unterscheiden, wie bei den gezählten Farben, Menschen, Dingen, so kann es zwar an diesen Dingen liegen, daß das in ihnen enthaltene Identische nur an verschiedenen Orten (resp. Zeitpunkten) wahrnehmbar sein kann, aber die Zahl ignoriert diese Unterschiede gänzlich und gründet sich nur auf die Verschiedenheiten des Wo und Wann, an welchem dieses Identische erscheint« (l. c. S. 103 f.). EBBINGHAUS erklärt: »Das Bewußtsein von Einheit in Vielheit, losgelöst von den verschiedenen Empfindungsinhalten, an denen es ursprünglich zur Anschauung kommt, ist die Vorstellung der Zahl« (Grdz. d. Psychol. I, 486 ff.). – Nach J. BAUMANN läßt sich ohne Vorstellungssuccession der Begriff der Eins anwenden. »Was wir als Punkt setzen, oder nicht mehr als geteilt setzen wollen, das sehen wir als eines an... Jede Vorstellung ist eine, wenn abgegrenzt gegen eine andere« (Lehren von R., Z. u. M. II, 668f.). Das Urteil: 7 + 5 = 12 ist (wie nach Kant) ein synthetisches Urteil a priori, d.h. eine Erkenntnis, welche in rein geistiger tätiger Anschauung vollzogen wird und nicht bloß auf dem Satze des Widerspruchs beruht (l. c. S. 669). Die Zahlen sind keine von den äußeren Dingen abgezogenen Begriffe, doch sind wir im Zählen durch die Dinge selbst motiviert (l. c. S. 669 f.). Allgemein sind die Zahlen und ihre elementaren Operationen, »weil wir sie zu freier innerer Verfügbarkeit haben und jeden Augenblick die Probe an ihnen machen können, und bei ihrer Durchsichtigkeit im einzelnen Fall die Regel selber zu erkennen ist. Die Sicherheit des Rechnens gründet sich darin, daß es ursprüngliche Tätigkeit ist, die nicht anders gemacht werden kann« (l. c. S. 670). Nach O. SCHNEIDER sind die Zahlbegriffe »die selbstgeschaffenen Ideen, Idealgebilde von Dingen, welche die Eigenschaft haben, daß sie auseinander, durch stetiges Hinzufügen des als Eins gesetzten Dinges und durch stetige Verdinglichung des neuen Merkmalscomplexes entstehen« (Transcendentalpsychol. S. 139). Nach H. COHEN hat die Zahl ihren [816] Ursprung nicht in den Dingen, sondern in der »Einheit des Bewußtseins« (Princ. d. Infin. S. 22). Die wahre Einheit besteht in dem Unendlichkleinen (Log. S. 116). Sie ist die Realität (ib.). Das »Urteil der Realität« erzeugt die Zahl als Kategorie (ib.). »Die Zahl, als Kategorie... bedeutet, daß sie als das methodische, unersetzliche Mittel anzuerkennen sei für die Erzeugung des Gegenstandes« (l. c. S. 117). Sie ist das Fundament, in welchem der Gegenstand seine Realität empfängt, welche eben nichts anderes ist als Zahl (ib.). Die Zahl erzeugt den Inhalt, darf das Sein bedeuten (l. c. S. 143). Nach HUSSERL ist die zeitliche Succession nur für die Entstehung der Zahlvorstellungen unerläßlich, aber die zeitliche Ordnung geht in den Inhalt des Zahlbegriffs nicht ein (Philos d. Arithm. 1891, I, 24 ff.). »Vielheit« ist »durch die Reflexion auf die besondere und in ihrer Besonderheit wohl bemerkbare Einigungsweise von Inhalten, wie sie jeder concrete Inbegriff aufweist« (l. c. I, 15 ff.). Die Zahl ist nicht ein Teil des psychischen Erlebnisses, des Zählens, nichts Reales (Log. Unters. I, 171). Sie ist zeitlos, ist die »ideale Species, die im Sinne der Arithmetik schlechthin eine ist, in welchen Acten sie auch gegenständlich werden mag« (ib.). Etwas und Eins, Vielheit und Anzahl sind Kategorien, Relationsbegriffe (Philos. d. Arithm. I, 91). Nach P. NATORP ist die Zahl »der reine Ausdruck, nicht irgend eines in der Erfahrung vorgefundenen Gegenstandes, oder bloß, einer höchst allgemein verbreiteten Eigenschaft solcher, sondern des gesetzlichen Verfahrens des Verstandes, einen Gegenstand überhaupt, im Denken ursprünglich, und erst folgeweise in der Erfahrung, als einen, zwei u.s.f. zu setzen und solcher Setzung gemäß zu erkennen« (Socialpädagog.2, S. 307). Daß 2 X 2= 4 ist, »ist kein Geschehen in der Zeit, weder ein einzelnes noch ein allgemeines, sondern ein Stattfinden, das an gar keine Zeitbedingung gebunden ist oder sie irgendwie einschließt« (l. c. s. 18). – Nach E. V. HARTMANN ist das Zählen ein Messen. Das Messen entspringt aus der Vereinigung des Vergleichens und Trennens (Kategorienlehre, S. 250). »Alle Zahlen entstehen unmittelbar durch Messen und drücken Maßverhältnisse aus. mittelbar entstehen sie durch Verbindung und Trennung von Maßverhältnissen oder durch das Messen von Maßverhältnissen aneinander« (l. c. S. 257). Nach HEYMANS heißt Objecte zählen, sie »mit den Zahlwörtern von eins an paarweise im Denken zusammenfassen« (Ges. u. Elem. d. wissensch. Denk. S. 156). Die reinen Zahlen bedeuten »die fest geordneten Laute, welche wir als Maßstab, die Anzahl gegebener Objecte zu bestimmen, verwenden« (l. c. S. 158 ff.). Nach STRICKER ist die benannte Zahl »an und für sich nur der Ausdruck von motorischen Innervationen« (Stud. üb. Assoc. S. 79). Das Zählen beruht auf motorischen Acten (l. c. S. 83). Die Zahlenvorstellungen sind innere Gestaltungen, durch Muskelinnervationen geschaffen (l. c. S. 83). Die Sätze der Mathematik sind unabhängig von der Sinnenwelt, beruhen bloß auf der Erkenntnis der Abhängigkeit unserer Muskelimpulse von unserem Willen, auf innerem Experiment (l. c. S. 87).

Nach WUNDT ist der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Zahlbegriffs die Einheit. Träger des Einheitsbegriffs ist der einzelne Denkact. »Die Function des Zählens besteht, worauf sie sich auch beziehen möge, immer in einer Verbindung einzelner Denkacte zu zusammengesetzten Einheiten. In dieser Beziehung ist die Function des Zählens nur eine specielle Äußerung der logischen Function des Denkens selbst. Sie entsteht aus der Verbindung aufeinander folgender Denkacte, wenn von dem Inhalt der letzteren völlig abstrahiert wird. Wie die Eins alles Mögliche bezeichnet, was als einzelner Denkact gegeben sein[817] kann, so stellt jede aus Einheiten zusammengesetzte Zahl eine Reihe von Denkacten beliebigen Inhalts dar, die entweder wirklich durchlaufen worden sind, oder deren Vollzug man als eine Aufgabe bezeichnen will, deren Lösung in derselben Weise geschehen kann, in welcher unser Denken fortwährend einzelne Vorstellungen zu zusammengesetzteren Einheiten verbindet. Nur daraus, daß die Zahl ein aus der discursiven Beschaffenheit des Denkens notwendig hervorgehender abstracter Begriff ist, wird es erklärlich, daß weitaus die meisten Zahlen Aufgaben sind, die wir niemals wirklich lösen, d.h. niemals wirklich aus den Einheiten zusammenfügen, aus denen sie bestehen.« »Der Begriff der Zahl ist, was nach Elimination aller... wechselnden Elemente als das Constante zurückbleibt, die Verbindung der einzelnen Denkacte als solcher, abgesehen von jedem Inhalt« (Log. I2, 521 ff.. II2, 1, 131 ff., 199 ff.). »Die Zahl ist die Zusammenfassung eines Mannigfaltigen zur Einheit« (Syst. d. Philos.2, S. 240). Nach H. CORNELIUS entspringt der Zahlbegriff unmittelbar aus dem Wahrnehmungsprocesse. Jeder Inhalt muß als Teil einer Mehrheit gedacht werden (Psychol. S. 174 f.). Einheit und Mehrheit sind formale Kategorien der Wahrnehmung, gelten unabhängig von der Beschaffenheit des Inhalts (l. c. S. 178). – W. JERUSALEM erklärt: »Die Zahlbegriffe verdanken... ihre Entstehung der objectiven Beschaffenheit der Dinge einerseits und der Urteilsfunction anderseits. Gruppen gleicher Objecte mußten früh die Aufmerksamkeit erregen, und die Betrachtung solcher Gruppen zwang den Menschen, ein und dasselbe Benennungsurteil zu wiederholen. Wie oft er es aber zu wiederholen habe, das war nicht Sache der Willkür, sondern das wurde eben durch die Anzahl der Individuen bestimmt, die in der Gruppe vereinigt waren.« »Jede Zahl ist eine Synthese. Sie besteht aus Einheiten, ist aber doch ein Ganzes, welches in sich die einzelnen Objecte vereinigt und durch diese Vereinigung zu einem neuen Kraftcentrum wird, in welchem Kräfte immanent sind, die erst durch diese Vereinigung geschaffen worden sind. Diese Synthese erlangt aber nur dadurch hinreichende Festigkeit, daß die Gruppe immer beisammen bleibt und nach der Wiederholung der einzelnen Urteilsacte wieder als ein Ganzes gleichsam zusammengeschaut und zusammengefaßt werden kann« (Die Urteilsfunction, S. 254 f.). – Vgl. W. BRIX, Üb. d. mathem. Zahlbegriff, Philos. Stud. V, 671 ff.. R. DEDEKIND, Was sind u. was sollen die Zahlen? 1888. G. FREGE, Die Grundlagen der Arithmet., 1888. B. KURY, Über Anschauung u. ihre psych. Verarbeit., Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 1885-91. CHR. EHRENFELS, Zur Philos. d. Mathemat., Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 1891, 285 ff.. G. FR. LIPPS, Untersuch. üb. d. Grundlag. d. Mathemat., Philos. Stud. IX-XII. M. FACK, Zählen und Rechnen, Zeitschr. f. Philos. u. Pädagog. II, 196 ff., u. a. -Vgl. Mathematik, Seele, Unendlich, Anzahl.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 811-818.
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