Guter Ton

[547] Guter Ton (franz. bon ton), wie Takt und Taktgefühl der Musiksprache entnommene Bezeichnung der besten Umgangsform und Lebensart. Sehr verschieden vom feinen oder höfischen Ton, gilt ihm als erste Regel, die eigne Person niemals vorzudrängen und alle niedern Mittel des Umganges (Schmeichelei, übertriebene Höflichkeit, üble Nachrede über Abwesende, Nachgiebigkeit gegen das Schlechte etc.) zu vermeiden, während der guten Lebensart die Gabe des Anpassens an fremde Schwächen nicht leicht fehlen darf. Im weitern Sinne verschmilzt aber der Begriff mit Anstand, Taktgefühl und feiner Sitte überhaupt, deren Aneignung von alters her Müttern und Pädagogen als Hauptziel der Erziehung galt, und deren Vollendung heutzutage für das weibliche Geschlecht in den »Pensionen« angestrebt wird. Die Vorschriften richteten sich stets auf Abstellung des Unpassenden, z. B. in Gegenwart andrer gierig zu essen, den Gastfreund schon vor der Mahlzeit nach seinen Reisezielen zu fragen, zu sitzen, wenn ältere Leute stehen etc. Seit dem Eintritt der Frau in das gesellige Leben galt sie als Wächterin und Richterin über den guten Ton. In Rom entstand unter Heliogabal sogar ein Frauensenat, der über hierher gehörige Fragen, namentlich der Kleidung und Moden, tonangebend wurde, und in Irland hat lange Zeit ein Frauenparlament mit dem Männerparlament gleichzeitig getagt. Zur Ritterzeit entschieden angeblich förmliche Minnegerichte und Minnehöfe (s. d.) über Fragen des guten Tones und der Galanterie, und die Burgfrauen übernahmen die Unterweisung auch der Pagen in feinern Umgangsformen. So empfiehlt in Goethes »Tasso« die Prinzessin Nachfrage bei edlen Frauen, um genau zu erfahren, was sich zieme. Daß sich der gute Ton mit der Kulturentwickelung ändert, geht schon aus der gebräuchlichen Redensart: »Es gehört heute zum guten Ton ...« hervor, und noch mehr aus den Vorschriften der alten Anstandsbücher, aus denen man erst erkennt, was früher alles in der bessern Gesellschaft noch möglich und abzustellen war. Wie noch vor 100 Jahren Perückentragen, steifes Zeremoniell, Tanzschritt beim Kompliment, gezierte Reden, Titelkultus etc. zum guten Ton gehörten, so rechnete man in neuerer Zeit die »stilvolle Wohnungsausschmückung« (Butzenscheiben, Humpenpaneele und andre höchst fragwürdige Requisiten), Schwärmerei für Musik, Theater und bildende Kunst, für Modeliteratur und -Philosophie etc. dazu. Eine Nachäffung französischen Wesens hat leider in Deutschland lange Zeit auch hierher gehört.

Von der Wichtigkeit, die dem guten Ton seit jeher beigemessen wurde, zeugt eine umfangreiche Literatur. Schon im Altertum begegnen wir einschlägigen Schriften von Plutarch, Seneca, Lukian u. a. Im Mittelalter folgte auf die »Disciplina clericalis« des Alfonsus (1105) und auf den »Phagifacetus« eine Schar von deutschen Lehrgedichten, unter denen Haslaus »Jüngling«, Zirkläres »Welscher Gast«, Freidanks »Bescheidenheit«, Trimbergs »Renner« angeführt seien. In dem Gedichte »Der Winsbeke« unterweist ein Ritter seinen Sohn, in der »Winsbekin« die adlige Mutter ihre Tochter über den guten Ton, in den zahlreichen »Tischzuchten« (s. d.) wird namentlich der gute Ton im Speisesaal gelehrt. Auch andre Nationen besitzen eine ähnliche reiche Anstandsliteratur, die Franzosen z. B außer dem »Roman der Rose« Robert de Blois' »Chastiement des Dames«, und Montaignes Essais enthalten viel Hierhergehöriges. In der spanischen Literatur genießt [547] Balthasar Gracians »Oraculo manual, y arte de prudencia« (deutsche Übersetzung von Schopenhauer) eines wohlverdienten Ansehens, obwohl es mehr ein Handbuch der Weltklugheit ist. In der neuern deutschen Literatur haben sich Knigges und Karl aus dem Winkels Handbücher über den »Umgang mit den Menschen« weite Verbreitung erworben, und Öttingers »Kunst, in 24 Stunden ein vollendeter Gentleman zu werden« (2. Aufl., Leipz. 1852) zeigt, was vor 50 Jahren zum guten Ton gehörte. Vgl. Ebhardt, Der gute Ton in allen Lebenslagen (13. Aufl., Leipz. 1896); Adelfels, Lexikon der seinen Sitte (9. Aufl., Stuttg. 1900); P. v. Schönthan, Die elegante Welt (6. Aufl., Berl. 1895); v. Wedell, Wie soll ich mich benehmen? (5. Aufl., Stuttg. 1899); A. v. Hahn, Der Verkehr in der guten Gesellschaft (Leipz. 1896); Hellmich, Ästhetik der Umgangsformen (Bresl. 1894), und ähnliche Schriften von E. v. Adlersfeld-Ballestrem (Leipz. 1895), Kallmann (neue Ausg., Berl. 1902), v. Düring-Ötken (das. 1896), Baudissin (das. 1900), »Spemanns goldenes Buch der Sitte« (Stuttg. 1900) u. a.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 547-548.
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