Thurgau

[512] Thurgau, Kanton der nördlichen Schweiz, durch den Bodensee und Rhein von Baden, Württemberg und Bayern getrennt, umfaßt 1011,6 qkm (18,3 QM.).

Wappen des Kantons Thurgan.
Wappen des Kantons Thurgan.

In dem zum Talsystem der Murg gehörenden Hinterthurgau steigt das Land fast zu voralpinen Höhen an, so am Hörnli (1135 m), jedoch ohne dessen Gipfel zu erreichen. Zwischen Thurtal und Bodensee zieht ein breites Plateau (Seerücken) hin, zu dem als einer der markantesten Punkte der Ottenberg (671 m) gehört. Der Kanton zählt (1900) 113,535 Einw. deutscher Abstammung. Die Katholiken (im ganzen 35,944) gehören der Diözese Basel an. Klöster bestehen nicht[512] mehr. Das Gelände besteht aus tertiären Sandsteinen und Mergeln, die magere Verwitterungsböden liefern; im östlichen und westlichen Teil bedingen Moränen tiefgründige Böden und intensivere Siedelungen. Die Waldfläche beträgt (1906) 179,66 qkm, das Rebland 11,63 qkm, das übrige vorherrschend dem Wiesenbau dienende Areal 655,78 qkm. Die Getreideproduktion ist auf Kosten der Milchwirtschaft sehr zurückgegangen. Hervorragend ist der Obstbau. 1906 betrug der Viehstand bei 11,222 Viehbesitzern 5619 Pferde, 63,439 Rinder, 23,473 Schweine, 709 Schafe, 6788 Ziegen und (1901) 10,220 Bienenstöcke. Zahlreiche Genossenschaftskäsereien vermitteln die Verarbeitung der Milch. In Ermatingen und Gottlieben werden jährlich über 150,000 Gangfische gefangen. Neben der Landwirtschaft tritt die Textilindustrie in den Vordergrund, namentlich Baumwollspinnerei und -Weberei, Maschinenstickerei nebst Färberei und Bleicherei, ferner Fabrikation von Maschinen (Arbon, Steckborn, Frauenfeld), Papier, Spielkarten etc. Es standen 1901: 336 Etablissements mit 11,724 Arbeitern unter dem schweizerischen Fabrikgesetz, und man zählte 1904: 256 Dampfkessel und 8 Brauereien. Größere Marktorte sind: Frauenfeld, Weinfelden, Amriswil und Dießenhofen. Der Kanton ist durch die See- und Thurlinie sowie die Eisenbahn Winterthur-St. Gallen erschlossen. Romanshorn ist ein bedeutender Hafenort und Stapelplatz. In Frauenfeld und Weinfelden arbeiten die beiden thurgauischen Zettelbanken: die Thurgauische Hypothekenbank (1851 gegründet) und die Thurgauische Kantonalbank (seit 1870). Außer trefflichen Volksschulen besitzt der Kanton ein Lehrerseminar in Kreuzlingen, die Kantonschule in Frauenfeld und die landwirtschaftliche Schule in Arenaberg, außerdem eine Rettungs- und eine Zwangsarbeitsanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken enthalten 60,000 Bände, wovon über 30,000 auf die Kantonsbibliothek in Frauenfeld entfallen. Nach der Verfassung vom 28. Febr. 1869 gehört der T. zu den rein demokratischen Kantonen. Sie gibt dem Volke das obligatorische Referendum, dem auch die Beschlüsse der Legislative unterstellt werden können. Die Legislative übt der Große Rat, der auf je drei Jahre durch das Volk gewählt wird. Die oberste vollziehende Behörde ist der Regierungsrat, mit fünf Mitgliedern und ebenfalls dreijähriger Amtsdauer. Die oberste Gerichtsinstanz heißt Obergericht, dessen sieben Mitglieder ebenfalls auf drei Jahre durch den Großen Rat gewählt werden. Der Kanton ist in acht Bezirke eingeteilt; jeder derselben hat seinen Bezirksstatthalter, dem ein Bezirksrat zur Seite steht, und ein Bezirksgericht, jede Gemeinde ihren Gemeinderat, dessen Vorsitz der Ammann führt; für die Kreise, aus mehreren Gemeinden zusammengesetzt, besteht je ein Friedensrichter und ein Notar. Die Staatsrechnung für 1906 weist an Einnahmen 2,772,301 Frank, an Ausgaben 2,583,758 Fr. auf; das reine Staatsvermögen beträgt 15,091,097 Fr. Hauptstadt ist Frauenfeld.

Geschichte. T. war der Name einer alten alemannischen Grafschaft, die ursprünglich außer dem Kanton T. auch die heutigen Kantone Zürich, Uri, Schwyz, Zug, Appenzell sowie Stücke von St. Gallen, Aargau und Luzern umfaßte, aber durch die Lostrennung des westlichen Teiles als eines besondern Zürichgaues, durch die Immunitätsprivilegien des Klosters St. Gallen etc. zusammenschmolz. Nach dem Aussterben der Grafen von Kyburg, welche die Landgrafschaft T. besessen, kam dieselbe an Rudolf von Habsburg (1264). 1417 wurde infolge der Ächtung Herzog Friedrichs das Landgericht im T. von Kaiser Siegmund an Konstanz verpfändet, 1460 entrissen die Eidgenossen das Land Österreich gänzlich und machten daraus eine gemeine Vogtei der sieben alten Orte (ohne Bern). Im Frieden von Basel (1499) mußte Konstanz ihnen auch das Landgericht abtreten. Unter dem Schutze Zürichs wandte sich der größte Teil des Landes der Reformation zu. Der Umsturz der alten Eidgenossenschaft (1798) befreite den T. aus seiner Untertanenschaft, und die Mediationsakte erhob ihn 1803 zum selbständigen Kanton mit einer Repräsentativverfassung, die 1814 durch Zensus, lange Amtsdauern, künstliche Wahlart etc. ein aristokratisches Gepräge erhielt. Nach der Julirevolution machte T. unter der Führung des Pfarrers Bornhauser den Anfang mit der Demokratisierung der schweizerischen Kantone durch seine neue, 26. April 1831 angenommene Verfassung. Seitdem gehörte der T. beständig zu den liberalen Kantonen, nahm teil an den Badener Konferenzbeschlüssen, hob 1848 seine Klöster auf bis auf eins und erklärte sich für Annahme der neuen Bundesverfassung wie auch für deren Revisionen 1872 und 1874. Nachdem schon 1837 und 1849 das Grundgesetz revidiert worden war, begann 1868 eine neue Revisionsbewegung, die Einführung des Referendums und der Initiative, der direkten Volkswahl der Regierung etc. anstrebte und in der Verfassung vom 28. Febr. 1869 ihren Abschluß fand. Vgl. Pupikofer, Geschichte des Thurgaus (2. Aufl., Frauenfeld 1886–89, 2 Bde.); Häberlin, Geschichte des Kantons T. von 1798–1849 (das. 1872) und von 1849–1869 (das. 1876); Kuhn, Thurgovia sacra (das. 1869–83, 3 Bde.); Straub, Rechtsgeschichte der evangelischen Kirchgemeinden der Landschaft T. (das. 1902); Böhi, Der Finanzhaushalt des Kantons T. in den Jahren 1803 bis 1903 (das. 1906); »Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte« (das. 1861 ff.); Meyer, Thurgauisches Urkundenbuch (das. 1881 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 512-513.
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