Wilna

[239] Wilna (Wilno), 1) Gouvernement im Europäischen Rußland, zu Westrußland gehörig, früher Theil von Lithauen; grenzt aus Baltische Meer, Preußen, Polen u. an die Gouvernements Kowno, Grodno, Minsk u. Witebsk; 767,7 QM.; Boden schwach hügelig, sehr waldig u. morastig, nicht unfruchtbar; Flüsse: Düna (Dwina mit der Disna), Niemen (mit der Kotra, Wilia, Meretsch, Dubicza u.a.), beide schiffbar, Beresina, Windau u. Dange; Seen zahlreich (Narocz, Driswiaty u. Braslaw); Klima zwar gemäßigt, doch ist der kurze Winter sehr streng, die übrigen Jahreszeiten nebelig u. feucht. Die 902,500 Ew. sind Lithauer (die Mehrzahl), Polen, Russen, Juden, Zigeuner u. einige Eingewanderte; dem Stande nach: Adel, Geistliche, Bürger u. Bauern; der Religion nach: Katholiken (610,000), Griechen (190,000), Juden (85,000), Evangelische (1000), Muhammedaner (über 1000). Beschäftigung: Ackerbau (immer mehr ausgebreitet) für Getreide aller Art, auch Hirse, Hanf u. Lein; Viehzucht (nicht bes. gutes Vieh, zum Theil leidliche Pferde); ergiebige Bienenzucht. Die Waldungen sind sehr gewinnreich; man baut Kähne u.a. Flußfahrzeuge, fertigt Theer, Pech, Kohlen, Ruß; es gibt viel Wild (Elennthiere, Bären, Wölfe, Vielfraße, Eichhörnchen, Wildschweine, auch einige Auerochsen), Raseneisen u. Bausteine. Industrie: unbedeutend. Der Handel verführt Getreide, Vieh, Waldproducte (Mastbäume), Honig, Wachs etc.; er liegt meist in den Händen der Juden. Eintheilung: jetzt nach der jüngsten Reorganisation Westrußlands in sieben Kreise, W., Dissna, Lida, Oschmjany. Swjenzjany, Troki u. Wilnika. Wappen: ein bewaffneter Mann zu Pferde, in der rechten Hand einen Säbel über den Kopf, in der linken ein Schild, mit Kreuzen besetzt, haltend, in Blau. 2) Kreis hier, an Grodno grenzend; 3) Hauptstadt des Gouvernements u. des Kreises, an der schiffbaren Wilia, hat zwei große Vorstädte (Antokolla u. Rudaischka) u. einige Befestigung; Sitz des Statthalters u. seiner Unterbehörden, eines katholischen Bischofs, eines lutherischen Consistoriums, 40 Kirchen (35 katholische, darunter die Schloßkirche, mit Kapelle u. Grab des St. Kasimir, 3 griechische, 2 protestantische), muhammedanisches Bethaus, Synagoge, verfallenes Schloß, Waisen- u. Armenhaus, Hospitäler, sonst Universität (gestiftet 1576 u. 1831 aufgehoben, von der Bibliothek, Sternwarte, Anatomie, Naturaliencabinet u.a. wurde Vieles nach Rußland [Petersburg, Kiew u.a.] geschafft), Medicinisch-chirurgische Akademie mit Bibliothek, Theologische römisch-katholische Akademie mit Bibliothek, 2 Gymnasien, 11 Convicte, 10 Buchdruckereien, 5 Buchhandlungen, Seminar, Piaristencollegium, Griechisch-theologisches Collegium. Schifferschule, Ritterakademie, mehre andere Schulen, 2 Klöster, mehre wissenschaftliche Gesellschaften, Tabaksspinnereien, Branntweinbrennereien, Handel; im Jahr 1861: 60,600 Ew., darunter 20,000 Juden. – W. bestand schon zur heidnischen Zeit u. war eine der heiligen Städte des slawischen Heidenthums; vom Großfürsten Gedimin von Lithauen 1305 zur Stadt erhoben, wurde es Residenz der Herzoge von Lithauen. 1387 ließ Wladislaw Jagello das Christenthum einführen u. die Kathedrale auf der Stelle des heidnischen Haupttempels gründen. 1389 belagerte der Deutsche Orden unter Konrad von Willenrodt das untere Schloß u. verbrannte die Stadt. Als der Orden 1393 die Belagerung von Neuem versuchte, wurde er geschlagen. 1581 hier Conföderation zwischen den Dissidenten der griechischen u. protestantischen Kirchen. Die Russen verbrannten 1610 u. plünderten 1656 die Stadt, wurden aber von den Polen 1660 bei W. geschlagen. 1702 wurde W. von den Schweden besetzt u. 1706 abermals von ihnen gebrandschatzt. 1734 besetzten es die Russen. 1737 u. 1748 brannte fast die ganze Stadt nieder. 1795 kam W. in der Theilung Polens an Rußland u. wurde 1796 Hauptstadt des Gouvernements. 1797 wurde die Statthalterschaft unter dem Namen Lithauen mit Grodno vereinigt, aber 1802 wieder getrennt. 1812 ward W. von Napoleon besetzt u. von hier aus der lithauische Aufstand organisirt. In der Polnischen Insurrection von 1830 u. 1831 war W. der Schauplatz bedeutender Verschwörungen, welche aber von der russischen Regierung unterdrückt wurden. Die Insurgenten unter Gielgud drangen bis in die Gegend von W. vor, wurden aber dort geschlagen (s. Polnischer Insurrectionskrieg S. 293). Während der Polnischen Insurrection von 1863–64 entfaltete der russische General Murawjew von hier seine Wirksamkeit zur Unterdrückung des Aufstandes. Seitdem wurden viele der oben genannten Lehranstalten, als der Parteinahme für die Insurrection verdächtig, russischerseits geschlossen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 239.
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